Daniel Bensaïd: Von der Aktualität des Kommunismus
Der folgende Artikel ist einer der letzten, die Daniel Bensaïd geschrieben hat. Er erschien Ende 2009 im vierten Heft der neuen Folge der von ihm zusammen mit Eustathis Kouvelakis und Francis Sitel herausgegebenen Pariser Zeitschrift "ContreTemps", als einer von elf Beiträgen zum Thema «Wofür steht die Bezeichnung Kommunismus?».
15.02.2010
Für den jungen Marx dagegen war dieser Kommunismus noch nichts weiter als eine «dogmatische Abstraktion», eine «aparte Erscheinung des humanistischen Prinzips». Das entstehende Proletariat hatte sich «den Doktrinären seiner Emanzipation, den sozialistischen Sektenstiftern» und wirren Geistern in die Arme geworfen, die «über die Leiden der Menschheit winseln» oder «das Tausendjährige Reich und die allgemeine Bruderliebe verkünden», als «eingebildete Aufhebung der Klassenverhältnisse». Vor 1848 spukte dieser gespensterhafte Kommunismus ohne klares Programm, in den «rohen» Formen gleichmacherischer Sekten oder ikarischer Träumereien umher.
Die Überwindung des abstrakten Atheismus implizierte jedoch bereits einen neuen sozialen Materialismus, der nichts anderes war als der Kommunismus selbst: «Wie der Atheismus als Aufhebung Gottes das Werden des theoretischen Humanismus, [ist] der Kommunismus als Aufhebung des Privateigentums die Vindikation des wirklichen menschlichen Lebens». Weit entfernt von jeglichem vulgären Antiklerikalismus war dieser Kommunismus «das Werden des praktischen Humanismus», für den es nicht mehr nur darum ging, die religiöse Entfremdung zu bekämpfen, sondern die reale soziale Entfremdung und das reale soziale Elend, aus denen das Bedürfnis nach Religion entsteht.
Von der grundlegenden Erfahrung von 1848 bis zur Pariser Kommune nahm die «wirkliche Bewegung», die tendenziell auf die Abschaffung der bestehenden Ordnung abzielte, Form und Stärke an, sie legte die «Sektierermarotten» ab und machte den «Orakelton wissenschaftlicher Unfehlbarkeit» lächerlich. Anders gesagt fand der Kommunismus, der zuerst eine Geisteshaltung oder ein «philosophischer Kommunismus» war, damit seine politische Form. In einem Vierteljahrhundert vollendete er seine Mauserung: von seinen philosophischen und utopischen Erscheinungsformen zur endlich gefundenen politischen Form der Emanzipation.
1 Die Begriffe der Emanzipation haben die Leiden
des vergangenen Jahrhunderts nicht unbeschädigt überstanden. Man kann
behaupten, dass sie wie die Tiere der Fabel nicht alle starben, und
doch keines verschont blieb. Sozialismus, Revolution, sogar Anarchie - diesen Begriffen geht es kaum besser als dem Kommunismus.
Der Sozialismus ist in die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa
Luxemburg verwickelt, in Kolonialkriege und vielfache
Regierungsbeteiligungen -
so weitgehend, dass er an Inhalt verlor in dem Maße, wie er an
Ausdehnung gewann. Einer methodisch geführten ideologischen Kampagne
ist es gelungen, in den Augen von vielen Revolution mit Gewalt und
Terror gleichzusetzen. Doch von allen Begriffen, die gestern große
Verheißungen und Träume formulierten, wurde der Kommunismus am meisten
beschädigt, weil er von der bürokratischen Staatsraison in Beschlag
genommen wurde und einem totalitären Unterfangen diente. Es bleibt die
Frage, ob es unter all diesen wund geschlagenen Begriffen welche gibt,
bei denen sich es lohnt, geheilt und wieder in Bewegung gesetzt zu
werden.
2 Dafür ist es notwendig, darüber nachzudenken, was
aus dem Kommunismus des 20.Jahrhunderts geworden ist. Begriff und
Gegenstand können nicht außerhalb der Zeit und der historischen
Bewährungsproben beurteilt werden, denen sie ausgesetzt waren. Für die
meisten wird die ständige Bezeichnung «kommunistisch» für den
marktwirtschaftlich-autoritären chinesischen Staat auf Dauer viel
schwerer wiegen als die brüchigen theoretischen und experimentellen
Erwiderungen einer kommunistischen Hypothese.
Die Versuchung, sich einer kritischen historischen Inventur zu
entziehen, würde dazu führen, die kommunistische Idee auf zeitlose
«Invarianten» zu reduzieren, sie zu einem Synonym für unbestimmte Ideen
von Gerechtigkeit oder Emanzipation zu machen und nicht zur
spezifischen Emanzipationsform in der Zeit kapitalistischer Herrschaft.
Der Begriff verliert damit an politischer Schärfe, was er an ethischer
und philosophischer Erweiterung gewinnt.
Eine der zentralen Frage ist, ob der bürokratische Despotismus die
legitime Fortsetzung der Oktoberrevolution oder die Frucht einer
bürokratischen Konterrevolution war, die nicht nur in den Prozessen,
Säuberungen, massenhaften Deportationen zum Ausdruck kommt, sondern
auch mit den Umwälzungen in Gesellschaft und Staatsapparat der
Sowjetunion der 30er Jahre.
3 Ein neuer Wortschatz lässt sich nicht per Dekret erfinden. Das Vokabular bildet sich langfristig heraus, über Anwendung und Erfahrung. Die Gleichsetzung des Kommunismus mit der Stalin’schen totalitären Diktatur hinzunehmen hieße, vor den vorläufigen Siegern zu kapitulieren, Revolution und bürokratische Konterrevolution miteinander zu verwechseln und somit das Kapitel der Weggabelungen zu streichen, das allein Raum für Hoffnung lässt. Und das würde bedeuten, den Besiegten gegenüber eine nicht wieder gut zu machende Ungerechtigkeit zu begehen, gegenüber alle denen die, bekannt oder nicht, die kommunistische Idee leidenschaftlich gelebt haben und sie gegen ihre Karikaturen und Fälschungen mit Leben erfüllt haben. Schande über diejenigen, die aufgehört haben, Kommunisten zu sein, als sie aufgehört haben, Stalinisten zu sein, und die nur solange Kommunisten waren, wie sie Stalinisten waren!
4 Von allen Arten, «das Andere» des widerwärtigen Kapitalismus zu benennen, das notwendig und möglich ist, behält der Begriff Kommunismus den größten historischen Sinn und die explosivste programmatische Ladung. Er erinnert am ehesten an die Gütergemeinschaft und Gleichheit, an die Vergesellschaftung oder Aufteilung der Macht, an die Solidarität, die dem egoistischen Kalkül und der verallgemeinerten Konkurrenz entgegenzustellen ist, an das Eintreten für die (natürlichen und kulturellen) Gemeingüter der Menschheit, die Ausweitung kostenloser Dienste der Grundversorgung (Aufhebung der Warenform), gegen die verallgemeinerte Ausplünderung und Privatisierung der Welt.
5 Er steht auch für einen anderen Maßstab des
gesellschaftlichen Reichtums als Wertgesetz und Markt. Der «freie und
unverfälschte Wettbewerb» beruht auf «Diebstahl an fremder
Arbeitszeit». Er gibt vor, Nichtquantifizierbares zu quantifizieren und
das nicht zu ermessende Verhältnis der menschlichen Gattung zu ihren
natürlichen Reproduktionsbedingungen auf das miserable gemeinsame Maß
der Arbeitszeit für abstrakte Arbeit zu reduzieren.
Kommunismus ist der Begriff für ein anderes Verständnis von Reichtum,
für eine qualitativ andere ökologische Entwicklung, die sich von dem
quantitativen Wirtschaftswachstum unterscheidet. Die Logik der
Kapitalakkumulation verlangt nicht nur Produktion um des Profits
willen, sondern erheischt auch «Produktion neuer Konsumtion», die
beständige Ausweitung des Zirkels der Konsumtion durch die «Produktion
neuer Bedürfnisse und Entdeckung und Schöpfung neuer Gebrauchswerte»:
Also «Explorieren der ganzen Natur» und «Exploration der Erde nach
allen Seiten». Auf dieser verheerenden Maßlosigkeit des Kapitals fußt
die Aktualität eines radikalen Ökokommunismus.
6 Im Kommunistischen Manifest wird der Kommunismus
zunächst durch das Eigentum erklärt: «die Kommunisten (können) ihre
Theorie in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums» der
Produktions- und Tauschmittel zusammenfassen, was nicht mit dem
individuellen Besitz der Gebrauchsmittel zu verwechseln ist. In allen
Bewegungen «heben sie die Eigentumsfrage, welche mehr oder minder
entwickelte Form sie auch angenommen haben möge, als die Grundfrage der
Bewegung hervor».
In der Tat beziehen sich sieben der zehn Punkte am Ende des zweiten
Abschnitts auf die Eigentumsformen: Expropriation des Grundeigentums
und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben; Einführung einer stark
progressiven Besteuerung; Abschaffung des Erbes an Produktions- und
Tauschmitteln; Konfiskation des Eigentums der Emigranten und Rebellen;
Zentralisation des Kredits in einer Staatsbank; Vergesellschaftung der
Transportmittel und Einführung einer öffentlichen und unentgeltlichen
Erziehung für alle; Schaffung von Nationalfabriken und Urbarmachung von
unbebauten Ländereien.
Diese Maßnahmen sind allesamt darauf ausgerichtet, die Kontrolle der
politischen Demokratie über die Ökonomie herzustellen, den Primat des
Gemeinwohls über das egoistische Interesse, den des öffentlichen Raums
über den privaten Raum. Es geht nicht darum, jegliche Form von Eigentum
abzuschaffen, wohl aber um «die Abschaffung des bürgerlichen
Eigentums», der «Aneignungsweise» auf der Grundlage der Ausbeutung der
einen durch die anderen.
7 Zwischen zweierlei Recht, dem der Eigentümer,
sich Gemeingüter anzueignen, und dem Existenzrecht der Enteigneten,
«entscheidet die Gewalt», sagt Marx. Die gesamte moderne Geschichte des
Klassenkampfs, vom Bauernkrieg in Deutschland über die englische und
die französische Revolution bis zu den sozialen Revolutionen des
vergangenen Jahrhunderts, ist die Geschichte dieses Konflikts.
Als «endlich entdeckte politische Form» der Emanzipation, als
«Abschaffung» der Staatsmacht, als Vollendung der sozialen Republik,
belegt die Pariser Kommune das Hervortreten dieser neuen Legitimität.
Ihr Beispiel hat Formen der Selbstorganisation und der Selbstverwaltung
der Bevölkerung in den revolutionären Krisen angeregt: Arbeiterräte,
Sowjets, Milizenkomitees, Industriekordons, Nachbarschaftsverbände,
Bauernkommunen – Organisationsformen, die der Tendenz nach die Politik
entprofessionalisieren, die gesellschaftliche Arbeitsteilung verändern,
die Bedingungen für das Absterben des Staats als eigenständiger
bürokratischer Körperschaft schaffen.
8 Unter der Herrschaft des Kapitals hat jeder
scheinbare Fortschritt sein Gegenstück der Regression und Zerstörung.
Er besteht letztlich «nur darin, die Form der Unterjochung zu ändern».
Der Kommunismus verlangt andere Ideen und Kriterien als die des
wirtschaftlichen Ertrags und der monetären Rentabilität, angefangen bei
einer drastischen Verminderung der Zeit für erzwungene Arbeit und einer
Veränderung des Arbeitsbegriffs: Es kann in der Freizeit keine
individuelle Entfaltung geben, solange die Arbeitenden in der Arbeit
entfremdet und verstümmelt bleiben.
Die kommunistische Perspektive erfordert auch eine radikale Veränderung
des Verhältnisses zwischen Mann und Frau: Die Erfahrung des
Verhältnisses zwischen den Geschlechtern ist die erste Erfahrung des
Andersseins, und solange das Unterdrückungsverhältnis fortbesteht, wird
jedes durch Kultur, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung sich
unterscheidende Wesen Opfer von Diskriminierung und Herrschaft sein.
Authentischer Fortschritt liegt in der Entwicklung und der
Differenzierung von Bedürfnissen, deren originelle Kombination jeden
und jede zu einem einzigartigen Wesen macht, dessen Singularität zur
Bereicherung der Gattung beiträgt.
9 Das Manifest versteht den Kommunismus als «eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist». Er ist damit die Maxime einer freien individuellen Entfaltung, die man weder mit den Trugbildern eines dem Konformismus der Werbung unterworfenen Individualismus ohne Individualität, noch mit der plumpen Gleichmacherei eines Kasernensozialismus verwechseln darf. Die Entwicklung der singulären Bedürfnisse und Fähigkeiten eines und einer jeden trägt zur universalen Entwicklung der menschlichen Gattung bei. Umgekehrt impliziert die freie Entwicklung eines und einer jeden die freie Entwicklung aller, denn die Emanzipation ist nicht das Vergnügen einzelner.
10 Der Kommunismus ist keine reine Idee, auch kein doktrinäres Gesellschaftsmodell. Er ist weder die Bezeichnung für ein staatliches Regime, noch für eine neue Produktionsweise. Er steht für die Bewegung, die die bestehende Ordnung in Permanenz aufhebt. Er ist aber auch das Ziel, das, aus dieser Bewegung entstanden, ihr eine Richtung weist und es - anders als prinzipienlose Politik, folgenlose Aktionen, tägliches Improvisieren - möglich macht zu bestimmen, was dem Ziel näher bringt und was davon wegführt. In diesem Sinne ist er keine wissenschaftliche Erkenntnis von Ziel und Weg, sondern eine regulative strategische Hypothese. Er benennt, was zusammengehört: den unbezwingbaren Traum von einer anderen Welt der Gerechtigkeit, der Gleichheit und der Solidarität; die permanente Bewegung, die auf einen Sturz der bestehenden Ordnung im Kapitalismus abzielt; und die Hypothese, die diese Bewegung auf eine radikale Änderung der Eigentums- und Machtverhältnisse orientiert, entfernt von Kompromissen mit einem kleineren Übel, das der kürzeste Weg zum größten Übel wäre.
11 Die soziale, ökonomische, ökologische und moralische Krise eines Kapitalismus, der durch seine Maßlosigkeit und Unvernunft die Gattung und den Planeten zugleich bedroht, stellt die «Aktualität eines radikalen Kommunismus» wieder auf die Tagesordnung, von der Walter Benjamin vor dem Hintergrund der heraufziehenden Gefahren der Zwischenkriegszeit schrieb.
Daniel Bensaïd
(Quelle: soz, Übersetzung: Wilfried Dubois unter Mitarbeit von Elfi Müller)