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Bolkestein I

Redaktion

Kampfplatz EU: Alarm Bolkestein Als sich im Mai/Juni 1995 in Frankreich und den Niederlanden eine Mehrheit der Bevölkerung gegen die EU-Verfassung aussprach, war der Katzenjammer groß. Um der Krise Herr zu werden, rief die EU-Kommission eine Phase D aus. „D“ steht offiziell für Dialog, tatsächlich aber für Durchdrükken, wie die aktuelle Entwicklung bei der Dienstleistungsrichtlinie zeigt.

24.04.2007

DIE DIENSTLEISTUNGSRICHTLINIE für den europäischen Binnenmarkt, genannt Bolkesteinrichtlinie, ist eines der am umstrittensten Brüsseler Projekte. Sie spielte auch für den Ausgang der Volksabstimmungen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wie in einem Brennglas konzentriert sie alles, was am Verfassungsentwurf als neoliberal kritisiert wird. Statt Arbeits-, Umwelt- und Verbraucherschutz auf möglichst hohem Niveau zu harmonisieren, soll der gesamte Dienstleistungssektor mit einer einzigen Rahmenrichtlinie dereguliert werden. Eine Richtlinie ist ein europäisches Gesetz. Ist sie erst einmal verabschiedet, muss sie von allen Mitgliedstaaten umgesetzt werden.
Der Dienstleistungssektor umfasst in vielen EU-Staaten 70% der Beschäftigten und 70% der Wirtschaftstätigkeit. Zu ihm gehören so unterschiedliche Branchen wie Pflegedienste, Bau, Handel, Gastronomie, Wasserversorgung oder Müllabfuhr. In all diesen Bereichen soll die wirtschaftliche Tätigkeit einem ungehinderten Wettbewerbsdruck ausgesetzt werden.
Das bedeutet, dass Anforderungen hinsichtlich Preisen oder Qualität der Dienstleistungen oder Qualifikation der Anbieter abgebaut werden bzw. ganz entfallen. Durch verstärkten Wettbewerb in diesen Bereichen kommt die öffentliche Daseinsvorsorge unter zusätzlichen Privatisierungsdruck.
Die Anforderungen an Unternehmen beim Eröffnen einer Niederlassung in einem anderen EU-Staat werden stark abgesenkt. Gleichzeitig wird das Herkunftslandprinzip eingeführt. Das bedeutet, Unternehmen werden in anderen EU-Staaten unter den Bedingungen aktiv, die im Staat ihrer Niederlassung gelten. Die Folge davon wäre, dass mehr Unternehmen ihren Sitz in Staaten mit niedrigeren Standards verlegen, und der Wettlauf um die niedrigsten Löhne, Steuern und sozialen Absicherungen zwischen den Mitgliedstaaten weiter angeheizt wird.
Es beschleunigt sich auch der Demokratieabbau, denn in den Mitgliedstaaten werden die Menschen dann unter unterschiedlichen Gesetzen leben, die der Zuständigkeit der von ihnen gewählten RepräsentantInnen entzogen sind.
Immer wieder hieß es, die Dienstleistungsrichtlinie sei vom Tisch. In aller Stille hat die EU-Kommission das Gesetzgebungsverfahren jedoch konsequent weiter betrieben. Im Februar steht jetzt die erste Lesung auf der Tagesordnung des Plenums des Europäischen Parlaments (EP). Vorausgegangen waren Beratungen in mehr als zehn Ausschüssen. Ende November legte der federführende Binnenmarktausschuss seinen Abschlussbericht vor, der die Beschlussempfehlungen der Ausschussberatungen für die Plenarabstimmung zusammenfasst.
Dank der Proteste konnten zwar einige kleine Änderungen erreicht werden, die neoliberale Mehrheit aus konservativen und liberalen Abgeordneten hat wichtige Kernbereiche jedoch bestätigt.
Erreicht werden konnte immerhin, dass in der Beschlussempfehlung Gesundheitsdienste und audiovisuelle Dienstleistungen vom Geltungsbereich der Richtlinie ausgenommen werden und die Zuständigkeit für Kontrollen bei den Behörden vor Ort bleiben soll. Der Kern der Richtlinie, das Herkunftslandprinzip, wurde aber nicht angetastet. Bei der Endabstimmung über den Abschlussbericht konnte sich die sozialdemokratische Berichterstatterin trotzdem zu nicht mehr als einer Enthaltung durchringen. Lediglich grüne und linke Abgeordnete lehnten das Herkunftslandprinzip konsequent ab und stimmten dementsprechend gegen den gesamten Bericht.
Allerdings ist die Beschlussempfehlung für das Parlament nicht bindend und die Fraktionsdisziplin im EP viel weniger ausgeprägt als in nationalen Parlamenten. Die bisherigen Abstimmungen in den Ausschüssen haben gezeigt, dass noch viel Mobilisierung notwendig ist, soll der Richtlinienentwurf, wenigstens das Herkunftslandprinzip, noch aufgehalten werden.
Am 14. Februar geht der Entwurf in die erste Lesung des Parlaments. Danach müssen ihn die WirtschaftsministerInnen der Mitgliedstaaten abstimmen, die im Rat für Wettbewerbsfähigkeit zusammentreffen. Darauf folgt eine zweite Lesung im Parlament und im Rat. Sollte es danach noch abweichende Meinungen zwischen Rat und Parlament geben, folgt ein Vermittlungsverfahren.
Die Dienstleistungsrichtlinie ist nur ein Pfad, auf dem die Deregulierung des Dienstleistungssektors vorangetrieben wird. Einschlägige Bestimmungen im EG-Vertrag schreiben sie längst fest. Allerdings ähneln diese Artikel eher einem politischen Programm, das eine schrittweise Liberalisierung vorschreibt. Dem Europäischen Gerichtshof scheint das alles viel zu langsam zu gehen, er fällt immer wieder Urteile, die eine viel weitreichendere Liberalisierung vorschrei
ben. Deshalb herrscht in der EU tatsächlich eine große Rechtsunsicherheit. Es gibt nicht einmal klare Kriterien, wann eine Niederlassung eröffnet wurde, was wichtig wäre, um festzustellen, ob es sich lediglich um eine Briefkastenfirma handelt. Solche Probleme gibt es auch bei allen Fragen rund um die Scheinselbstständigkeit.
Man sollte eigentlich erwarten, dass sich EU-Institutionen mit solchen Fragen beschäftigen, wenn sie an einer Dienstleistungsrichtlinie arbeiten. Leider ist das naiv. Der derzeit diskutierte Richtlinienentwurf tut alles, die bereits bestehenden Regulierungsdefizite auszuweiten. Alle Mitgliedstaaten sollen darauf verpflichtet werden, ihre nationalen Regelwerke daraufhin zu überprüfen, ob sie den häufig wenig präzisen Vorgaben des EuGH entsprechen. Über das Ergebnis sollen sie einen Bericht verfassen, in dem sie sich auch in einigen Bereichen für beibehaltene Regelungen rechtfertigen sollen. Anschließend sollen die Mitgliedstaaten diese Berichte gegenseitig evaluieren und, abhängig vom Ergebnis, weitere Regelungen abschaffen.
Wohin eine solche Politik der Wettbewerbsmaximierung führt, kann man in einigen Branchen bereits sehen. Rumänische Wanderarbeiter, die zu menschenunwürdigen Bedingungen in Schlachthöfen zu Hungerlöhnen arbeiten, Gammelfleisch in Supermärkten und immer mehr schlecht entlohnte scheinselbstständige Fliesenleger ohne Sozialversicherung auf Baustellen dürften dann nur der Anfang sein.
Auf Grund der großen Lohnunterschiede zwischen den Ländern der EU würde Europa immer tiefer an ethnischen Grenzen gespalten. Bereits heute arbeiten in vielen Betrieben mittel- und osteuropäische Beschäftigte zu wesentlich niedrigeren Löhnen als ihre einheimischen KollegInnen. Ein solches System ist nicht nur rassistisch, es führt unweigerlich dazu, dass deutsche und ausländische Beschäftigte immer mehr gegeneinander ausgespielt werden. Dabei trifft es in der Regel auf beiden Seiten diejenigen, die ohnehin bereits zu relativ niedrigen Löhnen arbeiten.
Die Mechanismen, die mit der Dienstleistungsrichtlinie eingeführt werden sollen, sind zu großen Teilen bereits tief in den EG-Vertrag eingeschrieben. Kapitalkräftige, nicht nur national, sondern auch transnational organisierte Interessengruppen konnten dies schon vor vielen Jahren erreichen. Nun arbeiten sie daran, sie auch „im wirklichen Leben“ immer mehr durchzusetzen. Soll der Widerstand von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen dagegen erfolgreich sein, werden sie sich, neben der nationalen Ebene, noch viel stärker auf transnationaler Ebene organisieren müssen. Auf der Tagesordnung steht die Forderung nach der Einführung von Mindestlöhnen und gleichem Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort.
Wichtigstes Ziel auf europäischer Ebene muss die Angleichung der Lebensverhältnisse in ganz Europa als erster Schritt für eine weltweite Angleichung sein. Der Markt schafft das nicht. Dazu bedarf es einer schrittweisen Angleichung von Standards auf möglichst hohem Niveau und einer aktiven europäischen Umverteilungspolitik, welche die zu schulternden Lasten gerecht verteilt. Dazu bedarf es allerdings auch einer gänzlich neuen Verfassung.
STEPHAN LINDNER (Der Artikel erschien zuerst ungekürzt in: SOZ, Jänner 2006; der Autor ist Mitglied des Koordinierungskreises von Attac Deutschland)


26-01-2006, 19:18:00 |