Bolivien: Zwischen Indígena-Utopie und Wirtschaftspragmatismus
Hervé Do Alto
Knapp drei Jahre nach seinem Scheitern bei den Wahlen 2002 gehen Evo Morales, Führer der Cocabauern und der bolivianischen Indígena-Bauernbewegung, und seine Partei siegreich aus den Gesamtwahlen vom 18. Dezember 2005 hervor. Diese Wahlen waren nach der Krise von Mai/Juni 2005 zwischen dem bisherigen Präsidenten Rodriguez und den sozialen Bewegungen vereinbart worden. Mit 51 % der Stimmen schafft die MAS-IPSP (Bewegung zum Sozialismus – Politisches Instrument für die Souveränität der Völker) schon im ersten Wahlgang den Durchbruch. Mit Morales, der für viele die sozialen Auseinandersetzungen verkörpert, die das Land seit 2000 und dem „Wasserkrieg“ in Cochabamba erfasst haben, wird erstmals in Lateinamerika ein Indígena Staatschef. Der Wahlsieg der MAS ist sicherlich in gewisser Hinsicht eine Rückkehr der Linken an die Macht (nachdem die UDP-Regierung 1985 an der Wirtschaftkrise gescheitert war). Aber die heutige Linke ist – auch wenn sie zum Teil das Erbe der damaligen Linken verkörpert – unendlich vielfältiger als diese.
24.04.2007
Der relative Wahlerfolg der MAS bei den Gesamtwahlen 2002 und den
Kommunalwahlen 2004 – auch wenn ihr in größeren Städten der Durchbruch
noch versagt blieb – ist nicht nur Ausdruck der unbestrittenen
Popularität Evo Morales‘, sondern auch und vor allem des politischen
Aufkommens einer sich konsolidierenden Bauern- und Indígenabewegung.
Die Anfang der 90er-Jahre entstandene Bewegung ist gewissermaßen die
Frucht eines Prozesses der Herausbildung eines „politischen
Instruments“, das den bolivianischen Bauern- und Indígenabewegungen
eine direkte Vertretung ermöglichte. Die Gewerkschaften der Cocabauern,
die seit Ende der 80-er Jahre in Konflikt mit der von der
US-amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde DEA unterstützten
bolivianischen Armee standen, gehören zu den Parteigründern.
Das Ziel dieses „politischen Instruments“ war unter anderem, durch
kollektiven Beitritt der beteiligten Organisationen eine so genannte
„organische“ Vertretung ihrer GewerkschafterInnen zu fördern. Die
Gründung einer solchen Struktur kann mit Blick auf die Geschichte
dieser Bewegung in zweierlei Hinsicht als überlegte Maßnahme gesehen
werden:
Einmal gegenüber der ursprünglich kulturell ausgerichteten
Kataristen-Bewegung, die Anfang der 70er-Jahre entstanden war und deren
Hauptziel darin bestand, der als unterdrückt und geleugnet
wahrgenommenen Identität der Indígenas Anerkennung zu verschaffen. Den
Kataristen-Führern, darunter Genaro Flores und Victor Hugo Cardenas,
gelang es, die Bauerngewerkschaft zu einer Bastion des Widerstands
gegen die Militärdiktaturen zu machen, zu deren treuesten Stützen sie
bis dorthin gezählt hatte. Als die Kataristen-Führer unmittelbar nach
der Demokratisierung in die Politik drängten, kam es jedoch zu
ständigen Spaltungen in der Bewegung, aus der eine Reihe kleiner
sektiererischer Parteien hervorging, deren Einheiten wesentlich
schwächer waren als die des Vereinten Gewerkschaftsbundes der
bolivianischen Landarbeiter (CSUTCB). Die insbesondere in ihrer
Verteidigung eines multiethnischen, plurikulturellen Boliviens vom
Katarismus beeinflusste MAS-Führung wurde nicht müde, diese Strömung in
organisatorischer Hinsicht als Gegenbeispiel anzuführen.
Ein weiterer entscheidender Faktor war der Wunsch, ein besseres
Kräfteverhältnis gegenüber der Linken aufzubauen, die die
Bauernbewegung stets als Trittbrett für ihre eigene Emanzipation ansah
und noch immer ansieht. Diese fast systematische Missachtung einer
Bewegung, die als unfähig betrachtet wurde, soziale Kämpfe im Land zu
führen, kommt in den nach wie vor geltenden Statuten des Verbands
bolivianischer Arbeiter (COB, Gewerkschaftsdachverband) zum Ausdruck,
der den Bergarbeitern als Gewerkschaftssektor eine zentrale Rolle
zuschreibt und sie als Avantgarde des bolivianischen Proletariats
feiert. Dies ist umso paradoxer, als klar ist, dass die Bergarbeiter,
die 1985 durch die neoliberalen Reformen aufgerieben wurden, auf ihre
wahre Bedeutung geschrumpft sind, während die Bauern/Bäuerinnen –
zahlenmäßig jetzt durch die Coca-Anbauer (oft ehemalige Bergarbeiter)
stärker in der COB vertreten – umgekehrt proportional zu ihrem Gewicht
auf der politischen Bühne repräsentiert sind.
Dieses von den führenden Köpfen des „politischen Instruments“ im Namen
der „organischen“ Beziehungen zwischen der MAS und ihren
Mitgliedsorganisationen gewollte und theoretisch begründete weitgehende
Fehlen eines AktivistInnenapparats hatte unbeabsichtigte Folgen für die
soziale Zusammensetzung der Partei und ihrer Leitungsinstanzen. Vor den
Gesamtwahlen 2002 veranlasste das Fehlen politischer Kader und der
Wunsch, im „urbanen Mittelstand“ Stimmen zu gewinnen, Evo Morales dazu,
zahlreiche Einladungen an linke Intellektuelle zu richten. Als
Symbolfigur wählte er den Journalisten und ehemaligen Guevaristen der
Kommunistischen Partei, Antonio Peredo, den Bruder von Inti und Coco
Peredo, die in Ches Guerilla gekämpft hatten, zum Kandidaten für die
Vizepräsidentschaft.
Die unbeabsichtigte Folge dieses gelungenen Schachzugs bei den Wahlen
2002 – in denen die MAS mit 35 ParlamentarierInnen 20 Prozent der
Stimmen erhielt und damit die zweitstärkste bolivianische Partei wurde
– war, dass in einer Partei, die auf atypische Weise zwei politische
Traditionen miteinander verband, Persönlichkeiten aus der klassischen
Linken stärker in den Vordergrund gerückt wurden, die keinen Bezug zur
Indígena-Strömung hatten. Beide Strömungen waren bisher darauf bedacht,
ihre gegenseitige Unabhängigkeit zu wahren, aber sie sind durch ein
starkes nationalistisches Gefühl mit einander verbunden, das bei den
Bauern/Bäuerinnen (besonders bei den Coca-Bauern) auf einer Opposition
gegen die Einmischung der Vereinigten Staaten in das politische Leben
Boliviens beruht und bei den Linken auf einer antiimperialistischen
Tradition. Die MAS heftete sich damit in gewisser Weise wieder den
„revolutionären Nationalismus“ auf die Fahnen, der Jahre lang von der
Nationalistischen revolutionären Bewegung (MNR) verteidigt wurde, bis
sich diese 1985 zum Neoliberalismus bekehrte, und verband diesen mit
dem kataristischen Denken und in geringerem Ausmaß mit dem Marxismus.
Gespaltene soziale Bewegungen
Trotz der MAS-Übermacht im linken politischen Lager bleiben die
sozialen Bewegungen in Bolivien stark gespalten, insbesondere aufgrund
des korporatistischen Denkens im Zusammenhang mit lokalen Interessen,
und manche geben sich zeitweise gegenüber der Partei von Evo Morales
ausgesprochen kritisch. Dennoch liegt dem Sturz der Regierung von
Carlos Mesa im März 2005 eine Einheit der sozialen Bewegungen durch
einen revolutionären Einheitspakt zwischen MAS, der Indígena-Bewegung
Pachakuti (MIP), der COP, den beiden CSUTCB und den Organisationen des
Alto zugrunde. Allerdings brach diese Einheit angesichts relativer
Differenzen bezüglich der Verstaatlichung der Erdgasindustrie (die MAS
sprach sich lange für eine „50/50“-Lösung aus, bevor sie sich der
Forderung nach vollständiger Verstaatlichung anschloss) und der für die
bolivianischen sozialen Bewegungen so typischen traditionellen
Konkurrenz zwischen den Führungen sofort wieder auseinander.
Um diesem Problem zu begegnen, glaubte Evo Morales, in der Person von
Alvaro Garcia Linera den geeigneten Kandidaten gefunden zu haben, der
auch die letzten noch zögernden Bewegungen anziehen sollte. Der
Soziologe Garcia, der sich namentlich dank seiner Fernsehauftritte als
politischer Kommentator großer Beliebtheit erfreut, ist ein ehemaliger
Kampfgenosse des MIP-Führers Felipe Quispe, der Anfang der 90er-Jahre
für seine Tätigkeit in der Guerillaarmee Tupac Katari (EGTK) ins
Gefängnis kam. Seither beschränkte sich Garcia im Wesentlichen auf
seine akademische Tätigkeit, blieb aber mit ausnahmslos allen
bolivianischen sozialen Bewegungen in Kontakt. Als er Mitte August
einwilligte, für die MAS anzutreten, tat er das mit dem Anspruch, auf
derselben Liste, aber hinter Morales alle Bewegungen zusammenzuführen,
um eine möglichst breite linke Einheit aus ArbeiterInnen, Indígenas und
Intellektuellen zu ermöglichen.
Heute scheint die Strategie von Alvaro Garcia und Evo Morales nur zum
Teil aufgegangen zu sein. Die von der MAS-Führung eingegangenen
Bündnisse reichen tatsächlich über die traditionellen Verbündeten der
Partei hinaus und schließen beispielsweise die Bewegung ohne Furcht
(MSM) des Bürgermeisters von La Paz, Juan del Granado, zahlreiche
Linksparteien wie die Sozialistische Demokratische Partei (PSD) und die
maoistische Marxistisch-leninistische Partei Boliviens (PCMLB), die in
El Alto verankert ist, sowie ArbeiterInnenorganisationen wie den
Bolivianischen Rentnerbund, den Nationalen Bund der Mikro- und
Kleinunternehmer (CONAMPYPE) oder auch Bergarbeiterkooperativen
(FENCOMIN) mit ein.
Doch obwohl dieses Wahlbündnis zweifelsohne breiter ist als jenes, das
die UDP 1982 zustande brachte, halten sich die bedeutendsten
Sozialistenführer abseits: Felipe Quispe kandidierte erneut für die
MIP, wenn auch ohne große Hoffnung, über das Ergebnis von 2002
hinauszukommen, als er auf 6 Prozent kam. Die Spaltung der CSUTCB
scheint diese erheblich geschwächt zu haben, und Roman Loayza erscheint
unterdessen selbst im Altiplano, einer traditionellen Hochburg von
„Mallku“, als legitimer Bauernführer.
Und Jaime Solares, Exekutivsekretär der COB, hätte beinahe als
Vizepräsident der MIP kandidiert, doch das Risiko, sein Mandat im
Gewerkschaftsbund zu verlieren, scheint ihn zum Rückzug bewogen zu
haben. Zudem scheint er auf den Aufbau eines der COB und der
Arbeiterbewegung eigenen „politischen Instruments der Arbeiter“ zu
setzen, da er gemäß einer sehr orthodoxen marxistischen Vorstellung
davon ausgeht, dass „die Arbeiterklasse als einzige Klasse in der Lage
ist, das bolivianische Volk zur Emanzipation zu führen, nicht aber die
Bauern.“
Beide waren von Alvaro Garcia angesprochen worden, um sich den Listen
der MAS anzuschließen. Die Gründe für das Scheitern dieses Bündnisses
sind vielfältig. Während Quispe und Solares Differenzen in den
Vordergrund stellen, die während der Mai-Juni-Krise aufgetreten sind,
spricht Garcia davon, dass es Probleme mit den Listenplätzen gegeben
hat. Diese Version ist alles in allem ziemlich glaubhaft, wenn man
sieht, wie die in den Medien breit kommentierten Verhandlungen mit dem
Regionalen Gewerkschaftsbund (COR) und mit dem Dachverband der
Stadtteilkomitees (FEJUVE) des Alto gescheitert sind.
Nachdem COR- und FEJUVE-Führung beinahe die Partei von Evo Morales
vertreten hätten, überbieten sie sich nun in Kritik an der MAS und
werfen ihr insbesondere vor, zu wenig Gewicht auf die Durchführung
einer Verfassung gebenden Versammlung zu legen. Diese Haltung stößt auf
Seiten der MAS auf Unverständnis, wie der Abgeordnete und MAS-Kandidat
Gustavo Torrico ausführt: „Würde das Gesetz zur Einberufung einer
Verfassung gebenden Versammlung vom momentanen Parlament ausgearbeitet,
bestünde eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass damit der weitere Verbleib
sozialer Gruppen in den Zentren der Macht begünstigt würde, die zu den
konservativsten Kräften gehören.“
Die unablässige Kritik an der MAS hat manche Führer sogar dazu bewogen,
die Gegnerschaft zwischen Evo Morales und den Kandidaten der Rechten,
Samuel Doria Medina von der Nationalen Einheit (UN) und Jorge „Tuto“
Quiroge von der Demokratisch-Sozialen Macht (PODEMOS) zu relativieren
und damit den Eindruck zu erwecken, ihren radikalen Auftritten müsse
nicht unbedingt eine entsprechende Praxis folgen. So etwa meint Edgar
Patana, COR-Führer im Alto, er werde „weder für Tuto noch für Evo
stimmen. Beide müssen sich erst bewähren“. Diese Haltung wird aber
nicht von allen geteilt, wie Jaime Solares beweist, der zwar Morales
seine Unterstützung versagte, aber dennoch der Meinung ist, „die
Hauptfeinde des bolivianischen Volkes sind die Neoliberalen und
Imperialismusfreunde, vertreten durch die Kandidaturen von Doria Medina
und ,Tuto‘ Quiroga.“
Ein zwiespältiges Wahlprogramm
Auch wenn Alvaro Garcia bei seinem Versuch gescheitert ist, die Gunst
der wichtigsten Führer sozialer Bewegungen außerhalb der MAS zu
gewinnen, so war er doch erfolgreich, was das zweite Ziel seiner
Kandidatur betrifft, nämlich die Einbindung von Intellektuellen des
„städtischen Mittelstands“ in den MAS-Wahlkampf. Rund um Alvaro Garcia
hat sich ein Team von Ökonomen und Soziologen (Carlos Villegas, Juan
Ramon Quintana, Elisabeth Salguero etc.) versammelt, deren Auftrag es
war, unter Führung des Kandidaten für die Vizepräsidentschaft das
Wahlprogramm der MAS auszuarbeiten. Obwohl die wichtigsten
ParteiführerInnen in Programmarbeitsgruppen mitwirkten, waren nicht sie
es, die diese Aufgabe hauptsächlich erledigten. Damit scheint sich das
Problem des Delegierens von politischer Arbeit an parteiexterne
Persönlichkeiten, das schon 2002 zu beobachten war, in diesem Wahlkampf
noch mehr verstärkt zu haben. Dagegen gibt es nur wenige „organische
Intellektuelle“, die aus der Indígena- oder Bauernbewegung
hervorgegangen sind. Dafür scheint der Zustrom von Intellektuellen, die
wie Alvaro Garcia zum Teil der Linken angehören, die programmatische
Ausrichtung der MAS zum Teil substanziell zu verändern, indem sie ihr
oft einen „technokratischen Anstrich“ verleihen. Dennoch kann man nicht
auf einen Taschenspielertrick der Intellektuellen schließen, die sich
die Partei unter den Nagel gerissen hätten. Vielmehr dürfte es sich um
einen Prozess handeln, den man „gegenseitige Legitimierung“ nennen
könnte: Evo Morales, der in seinen Ansprachen unentwegt das „Bündnis
zwischen Bauern und Intellektuellen“ feierte, versuchte auf diesem Weg,
einer zukünftigen MAS-Regierung Glaubwürdigkeit zu verleihen. Für die
Intellektuellen geht es darum, auf politischem Terrain ein oft rein
„technisches“ Wissen zu legitimieren, denn aufgrund ihres
Erfahrungsmangels als AktivistInnen ist ihr Wissen bis dahin von allen
politischen Schlussfolgerungen (insbesondere im wirtschaftlichen
Bereich) losgelöst.
Das Programm dieser Partei greift viele Erwartungen der meisten
sozialen Bewegungen auf: die Einberufung einer Verfassung gebenden
Versammlung, die Verstaatlichung der Erdgasvorkommen und der
natürlichen Ressourcen, die Verteidigung und Industrialisierung von
Cocablättern sowie die Definition einer von den Wünschen der
Vereinigten Staaten unabhängigen Inlands- und Auslandspolitik – eine
Forderung, die im Slogan „Nationalisierung der Regierung“ zum Ausdruck
kommt. All diese Punkte widersprechen jeder für sich den Interessen des
nordamerikanischen Nachbarn wie auch der ausländischen Multis, die im
Gas-, Holz- und Wassergeschäft tätig sind (insbesondere die
französischen Unternehmen Total und Suez-Lyonnaise des Eaux
[Wassergesellschaft]).
Trotz dieser scheinbaren Radikalität werden die Stellungnahmen der MAS
insbesondere durch Alvaro Garcia unentwegt nuanciert, etwa durch die
Beteuerung, niemand „außer denen, die das Volk wirklich bestohlen
haben“, habe Anlass, sich vor einer MAS-Regierung zu fürchten. Das
führte zeitweise zu Spannungen oder Missverständnissen im Wahlkampf:
Während Morales an der Seite von Hugo Chávez in Mar del Plata gegen die
ALCA demonstrierte, erklärte Alvaro Garcia, das beeinträchtige nicht
mögliche bilaterale Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten über ein
Freihandelsabkommen, das wünschenswert wäre, „solange es die
wirtschaftliche Souveränität Boliviens nicht beeinträchtigt“. Während
Morales die brüderliche Beziehung betont, die ihn mit Chávez und Fidel
Castro verbindet, gesteht Alvaro seine „Bewunderung für die europäische
Sozialdemokratie“ und meint, Venezuela versuche, wie „jeder andere
Staat, in seinen zwischenstaatlichen Beziehungen in erster Linie seine
eigenen Interessen zu befriedigen“.
Eine „Revolution“ ist also nicht in Sicht, und auch keine sehr
radikalen Maßnahmen wie eine erneute Agrarreform oder ein ehrgeiziges
Sozialhilfeprogramm, das in einem Land, in dem extreme Armut herrscht,
als „sozial notwendig“ erscheinen könnte. Zumal Evo Morales betont hat,
dass die MAS-Regierung – auch wenn im Wahlprogramm von der Aufhebung
des Dekrets 21060 die Rede ist, das 1985 massive Privatisierungen
einleitete – am Beginn trotz allem mit neoliberalen Gesetzen arbeiten
müsse. Die wichtigsten radikalen Anderungen, die im Programm gefordert
werden, betreffen vor allem den Produktionsbereich. Insbesondere soll
der Staat wieder mehr Handlungsfähigkeit bekommen. Seine Rolle wird in
der Koordinierung der verschiedenen Bereiche gesehen, aus denen sich
die bolivianische Wirtschaft zusammensetzt (Großunternehmen, Gemeinden
und handwerkliche Mikrounternehmen), was Alvaro Garcia den
„Anden-Amazonas-Kapitalismus“ nennt. Damit soll ein
„Produktivitätsschub“ ermöglicht werden, der Stellen und Reichtum
schaffe.
Trotz der scheinbaren Mäßigung im Programm und den ständigen
Zugeständnissen des Präsidentschaftsduos an das nationale und
ausländische Kapital wäre es verfehlt, mit dem Sieg der MAS ein
Szenario nach dem Vorbild von Lula vorherzusehen. Manche Fragen wie die
Entkriminalisierung des Coca-Anbaus, die Morales vorschlägt, wirken im
politischen Kräfteverhältnis tatsächlich polarisierend und haben zwar
diskrete, aber effiziente Einmischungen des US-amerikanischen
Botschafters in die lokale Politik zur Folge, wie erst kürzlich der
„Raketenskandal“ gezeigt hat.
Zudem dürfte die auch auf regionaler Ebene stattfindende Polarisierung
ebenfalls Einfluss auf die MAS-Regierung haben. Vermutlich wird sie
gezwungen sein, sich rasch zwischen Washington und der Achse
Caracas/Havanna zu entscheiden.
Sicher scheint heute, dass eine MAS-Regierung im Gegensatz zu Gutiérrez
und Lula seitens der Opposition wie der Vereinigten Staaten mit
keinerlei Stillhalten rechnen können wird. Für die Vereinigten Staaten
ist der Sieg von Morales ein Alptraum, denn er könnte die Strukturen
eines Kolonialstaates in Frage stellen, von dem sie seit der Einführung
der Republik im Jahr 1825 stets profitiert haben. Eine MAS-Regierung
müsste auch darauf achten, die Hoffnungen nicht zu enttäuschen, die die
Volksbewegungen, die Armsten und die Ausgeschlossenen in sie setzen.
Die Wahlen schließen immerhin an eine Periode von Massenmobilisierungen
an.
(Der Autor ist angehender Politikwissenschaftler und Inprekorr-Korrespondent in Bolivien)
Aus dem Französischen: Tigrib
04-02-2006, 18:18:00 |Hervé Do Alto