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Anmerkungen zur politischen Lage: Falsche Antworten auf die Krise und die Notwendigkeit von Übergangsforderungen

Angela Klein

Die sich anbahnende Weltwirtschaftskrise, wovon die Finanzkrise nur die erste Phase darstellt, hat die wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Situation rund um den Globus fundamental verändert.

12.01.2009

Ihrer Schärfe und Tragweite nach ist sie am ehesten vergleichbar mit der Krise von 1929, als auf einen Börsenkrach eine über zehnjährige Große Depression folgte. Jeder Versuch, sie im wesentlichen auf eine Finanzkrise zu reduzieren, die innerhalb von ein-zwei Jahren behoben werden könnte, verkennt daher ihren Charakter und ihre Ursachen und beschönigt die weitreichenden Folgen, die sie haben wird.

1. Der Charakter der Krise

Es ist inzwischen anerkannt, dass die Rezession nicht eine Folge des Bankenkrachs ist, sondern in den USA bereits 2006 einsetzte: Steigende Immobilienpreise und wieder anziehende Zinsen waren ein Indiz dafür, dass der ungestüme Handel mit kreditfinanzierten Immobilien, die sich refinanzieren sollten aus der Wette darauf, dass die Häuserpreise weiter steigen würden, abgebremst wurde. Ereignisse im Finanzsektor wie der Rückgang und die Verteuerung kurzfristiger Finanzierungen im Sommer 2007 und die Insolvenz von drei Hedgefonds, welche die Investmentbank Bear Stearns als erste kollabieren ließ, haben nur angezeigt, dass in der Realwirtschaft – in diesem Fall auf dem Immobilienmarkt, einem der größten Binnenmärkte in den USA – die Expansion ins Stocken gekommen war und die Tendenz sich umkehrte.
Die Wirtschaftskrise 2008 beendet den Konjunkturzyklus, der 2001 begonnen hat – im Wesentlichen genährt durch die hohe Verschuldung der privaten Haushalte in den USA, gepaart mit einer weiteren Senkung der Konsumgüterpreise durch die systematische Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer wie China, die sich dafür im Gegenzug zum größten Gläubiger der USA aufschwangen. Sie beendet somit eine Phase, in der die weitere wirtschaftliche Expansion in den Zentren der kapitalistischen Wirtschaft vor allem auf Pump beruhte, während die Kaufkraft real stagnierte oder, wie in Deutschland, selbst in der Aufschwungsphase zurückging.
Die Krise 2008 beendet aber auch die Periode, die mit der Weltwirtschaftskrise Mitte der 70er Jahre eingeläutet wurde und den Siegeszug der neoliberalen Doktrin erlebte. Diese Periode ist dadurch gekennzeichnet, dass die Wiederherstellung der Profitrate durch das Aufbrechen bislang geschützter und regulierter Märkte erfolgen sollte (Finanzmärkte, bisher abgeschirmte Sektoren der Weltwirtschaft, Arbeitsmärkte), wovon sich die reichen Industrieländer einen Konkurrenzvorteil und vermehrte Absatzquellen versprachen. Nun rutschen die Gewinne wieder in den Keller; der Mechanismus der Deregulierung hat das gesamte Gefüge der kapitalistischen Wirtschaft destabilisiert und das private Kapital braucht neue, staatlich garantierte Regulierungen, um die Voraussetzungen für den Akkumulationsprozess zu sichern.
Wie diese Regulierungen aussehen sollen, darüber gibt es noch keine konkreten Vorstellungen, geschweige denn einen neuen „internationalen Konsens“. Es ist sogar schwieriger als Mitte der 70er Jahre, einen neuen Konsens zu finden, weil die USA aus dieser Krise ökonomisch geschwächt hervorgehen – ihr Anteil am Weltsozialprodukt ist, gemessen an der Bevölkerung, rückläufig. Gleichzeitig sind ihr in Form sog. Schwellenländer bedeutende kapitalistische Konkurrenten erwachsen, die auch in der Krise noch wachsen, wie China oder Indien. Eine schnelle Antwort auf die Hegemoniekrise ist nicht zu erwarten, das verlängert die Dauer der Krise und verschärft sie auch politisch und militärisch.
Anders als in den 30er Jahren, und im Ergebnis einer ungezügelten internationalen Konkurrenz um Rohstoffe, Nahrungsmittel und Arbeitskraft ist die jetzige Krise jedoch begleitet von einer anhaltenden Schuldenkrise in der sog. Dritten Welt; einer schweren Nahrungsmittelkrise, bedingt durch die Aneignung der Böden und der Agrarprodukte durch die multinationalen Konzerne; und einer Energie- und Klimakrise, die die Reproduktionsfähigkeit eines Teils der Menschheit in Frage stellt. Sie lösen Migrationsströme in bisher ungekannten Ausmaßen aus.
Diese Kombination von Faktoren rechtfertigt die Aussage, dass wir in der Tat eine Systemkrise durchmachen, eine Krise des Kapitalismus als globales Wirtschaftssystem. Die Kapitaleigner und ihr ausführendes Personal in Politik und Medien verstehen die Schärfe der Krise und was auf dem Spiel steht zum Teil besser als viele Linke. Sie wissen, dass sie umfassende Antworten brauchen, sind andererseits durch ihre jeweiligen, divergierenden, Partikularinteressen daran gehindert, solche Lösungen zu finden. Die Arbeiterbewegung und ein großer Teil der Linken hingegen krankt daran, dass sie meint, immer noch mit den Teilantworten auszukommen, die sie bislang entwickelt hat – statt ihrerseits eine umfassende Antwort zu geben, die den Kapitalismus ablösen könnte.
Die Aufgabe der nächsten Zeit muss darin bestehen, zusammen mit einem Maximum an politischen und sozialen Kräften eine gesamtgesellschaftliche Alternative zu entwickeln, die dem Stand der Dinge nach nur eine ökosozialistische sein kann.

 

2. Rettungspakete für Diebe und Plünderer

Wenn sich die Kapitalseite auch der Schwere der Krise bewusst ist und sie auch bereit ist, alle Dogmen über Bord zu werfen, nur um die eigene Haut zu retten, fehlt ihr doch das Instrumentarium, sie zu erklären. Sie sucht die Schuld deshalb bei sog. schwarzen Schafen und ihren Exzessen; damit soll auch der Zorn der Öffentlichkeit abgelenkt werden, damit nicht das Gesamtsystem in die Schusslinie gerät. Die für sie wichtigste Message lautet: Die Krise ist kontrollierbar. Glaubwürdig konnten das nur die Regierungen sagen, nur sie waren in der Lage, durch Verstaatlichungen und die Einwirkung auf den Interbankenverkehr die Spekulation zu stoppen. Damit ist zugleich verbunden, dass tatsächlich nur die Exzesse eingedämmt werden sollen, der Sumpf selbst wird nicht trocken gelegt, das widerspräche dem Grundsatz, dass der Staat sich so wenig wie möglich in die privaten Geschäfte einmischen soll – dieser Grundsatz ist ihm nach wie vor heilig. Die Staaten versuchen also, den Kapitalismus zu retten – dafür müssen sie sein Funktionieren ändern; wie, das ist eine Sache des Kräfteverhältnisses zwischen den Kapitalfraktionen, zwischen den Staaten und zwischen den Klassen.
Weil es aber eine Frage des Kräfteverhältnisses ist, ist es auch möglich – und auch so wichtig, dass die Arbeiterbewegung und die Linke sich jetzt aktiv in die Diskussion um eine grundsätzliche Alternative einmischen, und sich nicht allein mit abwehrenden Teilforderungen zufrieden geben. Dazu muss sie sich mit zwei Grundproblemen der derzeitigen Staatsintervention auseinandersetzen, wie sie in den vielfältigen „Rettungspaketen“ zu Ausdruck kommt:
1. Die staatlichen Rettungsmaßnahmen haben zum Ziel, die bestehende Produktion fortzusetzen. Sie stellen nicht den Zwang zur Akkumulation und Überakkumulation in Frage, sondern versuchen nur, die eigene Industrie so aufzustellen, dass sie die nunmehr eingeleitete neue Runde im internationalen Konkurrenzkampf überstehen kann. Sie tun dies mit Hilfe einer enormen Ausweitung der öffentlichen Verschuldung, die auf Kosten der Sozialhaushalte und der öffentlichen Dienste geht. Dazu gehören nicht nur die Rettungspakete für die Banken, dazu gehören auch die staatlichen Hilfen für die Industrie und die Konjunkturprogramme. Sie haben nicht die Sicherung der Arbeitsplätze und die Stärkung der Kaufkraft durch Aufbesserung der Einkommen im Visier, sondern sie dienen dazu, eine gigantische Kapitalkonzentration in verschiedenen Sektoren der Wirtschaft zu finanzieren. Die Fusionswelle, die da anrollt, wird in großem Umfang Arbeitsplätze vernichten. Gegen diese Form der „Verstaatlichung“ ist strikte Opposition angesagt. Die Lohnabhängigen, die den Reichtum der Gesellschaft erwirtschaften, müssen den Anspruch formulieren, dass er verwendet wird für eine Produktion, die umweltverträglich und sozial verträglich ist. Staatliche Hilfen darf es nur gegen strenge Auflagen und eine scharfe öffentliche Kontrolle geben. Banken und Unternehmen, die ihnen nicht nachkommen, müssen in öffentliches Eigentum überführt werden.
2. Die energetische Basis, auf der der Kapitalismus beruht, ist längst nicht mehr tragbar. Auf der Tagesordnung steht eine neue industrielle Revolution, die die Nutzung fossiler Brennstoffe vollständig ablöst zugunsten regenerativer Energien. Und das schnell. Die technischen und gesellschaftlichen Grundlagen dafür wären gegeben, die Forderung bricht sich jedoch an den kurzfristigen Profitinteressen der Sektoren der Wirtschaft, die für den Massenkonsum maßgeblich sind: die Automobilindustrie, die Unterhaltungsindustrie und die Nahrungsmittelindustrie. Eine Alternative zum Kapitalismus lässt sich deshalb nicht diskutieren, ohne zugleich die Frage nach der politischen Umsetzung und damit der politischen Macht zu stellen.

 

3. Übergangsforderungen

Auf der Linken gibt es vor allem zwei Antworten:

* Sektoren um Attac und einen Teil der Grünen konzentrieren sich auf den Finanzsektor und spitzen ihre Forderungen zu auf ein „neues Bretton Woods“ – damit ist eine internationale Neuregelung der Finanzströme gemeint, die eine Phase des „grünen Kapitalismus“ einläuten soll. Der technologische Wandel soll auf freiwilliger Basis vor sich gehen, ermuntert durch staatliche Steuerung und durch Verhaltenscodices der Unternehmen. Vorbild ist der „New Deal“ der 1930er Jahre, der allerdings vollständig falsch interpretiert wird. Diese Perspektive krankt vor allem daran, dass sie erfordern würde, dass ihre Befürworter die Kommandohöhen besetzt halten, auf denen allein sie umsetzbar wäre. Danach sieht es derzeit aber nicht aus, weshalb sich lateinamerikanische Staaten mit linken Regierungen zum Beispiel darauf orientieren, sich aus internationalen Finanzinstitutionen wie dem IWF oder der Weltbank zurückzuziehen und eigene regionale Institute zu schaffen.

* Die Gewerkschaften konzentrieren sich zum großen Teil auf Forderungen nach Investitionshilfen (beispielsweise für die Autoindustrie) und nach Konjunkturprogrammen – in der Hoffnung, damit Arbeitsplätze zu sichern bzw. zu schaffen und die Kaufkraft aufzubessern. Im Gegensatz zu anderen machen sie nicht die Finanzkrise für die kommende Rezession verantwortlich, sondern den Rückgang der Massenkaufkraft und die damit geschwächte Binnenkonjunktur. Sie verstricken sich jedoch in einen Widerspruch: Sie machen die geringen Einkommen der unteren Schichten als Ursache der Krise aus, sind aber selber nicht in der Lage – nicht einmal in den Jahren wirtschaftlichen Aufschwungs – bessere Einkommen durchzusetzen. Darunter leidet ihre Glaubwürdigkeit sehr. Die Forderungen, die sie stellen, werden an Radikalität immer wieder von denen der Konzern- und Bankenchefs und von plötzlichen Regierungsbeschlüssen übertroffen (ver.di hat im Oktober mit einem Konjunkturprogramm von 12 Mrd. Euro angefangen, bis sie von der Regierung überholt wurde und dann draufsattelte).
Weniger noch als Attac u. a. spielen die Gewerkschaften deshalb eine führende Rolle bei der Orientierung des Widerstands gegen den kapitalistischen Umbau, der trotz verbreiteter Kritik weitgehend unangefochten autoritär von oben durchgesetzt wird. Sie verharren großenteils in rein defensiven Reaktionen, versehen Investitionshilfen und Konjunkturprogramme nicht mit den notwendigen Auflagen einer öffentlichen Kontrolle und ökologischen Wende und beschränken sich letztlich darauf, sich hinter die eh schon am besten abgesicherten Teile der Belegschaften zu stellen. Damit vertiefen sie die Spaltungslinien in der Arbeiterklasse und verschärfen die Notwendigkeit nach einem anderen Typ gewerkschaftlicher Interessenvertretung.
Beide Ansätze beantworten nicht die Systemfrage. Eine Kritik des kapitalistischen Systems muss heute den Inhalt der Produktion, den Akkumulations- und Wachstumszwang und den Grundsatz der allgemeinen Konkurrenz um Ressourcen und Märkte und der Produktion um des privaten Profit willen in Frage stellen. Die lohnabhängigen Klassen in den Industrieländern und die Bevölkerungen in den Ländern des Südens haben in den vergangenen 30 Jahren genug bluten müssen für ein Gesellschaftssystem, das ihre Existenzgrundlagen zerstört und obszöne Formen des Reichtums geschaffen hat. Sie haben nicht dafür zu zahlen, dass die Kapitalisten ihr eigenes System gegen die Wand gefahren haben. Sie müssen den Mut aufbringen zu fordern: „Abtreten! Wir sind jetzt gefragt! Wir wollen bestimmen über die gesellschaftlichen Veränderungen, die jetzt anstehen!“
Übergangsforderungen schlagen eine Brücke zwischen Tagesforderungen und der gesamtgesellschaftlichen Perspektive. Bei der großen Rolle rückwärts nach dem Fall der Mauer ist die gesamtgesellschaftliche Perspektive vielfach abhanden gekommen – das gilt selbst für die radikale Linke. Bestenfalls wurde von den 90er Jahren bis jetzt der Versuch unternommen, Forderungen aus verschiedenen Teilbereichen miteinander zu verbinden – am anschaulichsten in der sog. „Triade“ (dem Dreiklang aus Mindesteinkommen, Mindestlohn und Arbeitszeitverkürzung). Wir haben soziale Rechte verteidigt und den neoliberalen Kapitalismus kritisiert, aber wir waren nicht in der Lage, das System seiner eigenen Unfähigkeit zu überführen. Diese Unfähigkeit wird jetzt deutlich für jedermann erkennbar. Das System hat sich diskreditiert. Jetzt steht die Frage: Welche Alternative gibt es und wer trägt sie?

Bewegungen und Kämpfe für Übergangsforderungen sollen einen Akteur schaffen, sie sollen helfen, dass all jene, die allein von ihrer Arbeitskraft leben, sich zu einem gesellschaftlichen Subjekt formieren, sich in Bewegung setzen, die Verfügungsgewalt über das Kapital praktisch in Frage stellen, die Teilhabe am gesellschaftlichen Entscheidungsprozess aktiv einfordern – jenseits verkrusteter Strukturen von Parteien und selbst Gewerkschaften. Ausgangspunkt sind dabei immer unmittelbare soziale Belange: die Verteidigung des Arbeitsplatzes, des Lohnniveaus, der Sozialleistungen, der öffentlichen Dienste. Sie müssen, damit sie mobilisieren können, den Alltag und das Alltagsbewusstsein der Menschen ansprechen. Dazu müssen sie aber auch eine Kampfperspektive bieten, die über den aktuellen Konflikt hinausweist und ihn in einen größeren Zusammenhang stellt. Sonst lassen sich keine gesellschaftlichen Bündnisse schmieden, lässt sich ein Kampf nicht ausweiten.

Die Forderungen, die wir erheben, müssen unter anderem eine kulturelle Note bekommen: Es muss sichtbar werden, wie sich das Leben der Menschen ändern kann, wenn sich das System ändert. Forderungen nach Mindesteinkommen/Mindestlohn oder Arbeitszeitverkürzung sind nicht nur ökonomische Forderungen; sie transportieren auch andere Dimensionen: keine Lohnkonkurrenz mehr, Muße für die Reproduktion; Zeit für Selbstverwaltung und Teilhabe an politischen Entscheidungen, andere Inhalte der Produktion, neue Formen der Kooperation mit anderen Völkern, in Europa und weltweit.
Zu arbeiten ist an einem konkreten Programm für eine energetische Erneuerung der gesamten Produktion; für eine Ausweitung der öffentlichen Dienste auf alle Bereiche, die für die gesellschaftliche Reproduktion von Bedeutung sind, und eine effiziente öffentliche Kontrolle; für ein politisches System, das allen Menschen eine unmittelbare Teilhabe an den wesentlichen wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen ermöglicht; für eine Kulturrevolution auf der Arbeit und im Alltag, die den Menschen, nicht den Konsum in den Mittelpunkt stellt.

4. Eine neue Weltordnung

Die Struktur der Weltwirtschaft ist ruinös. Der Wirtschaftsaufschwung der letzten Jahre war nur um den Preis möglich, dass die privaten Haushalte der USA über die Ohren verschuldet wurden, damit sie billige Waren aus China und anderen asiatischen Ländern importieren konnten, die damit enorme Devisenreserven akkumulierten, die ihnen wiederum halfen, hochwertige Technologien und Produkte aus Europa oder Japan zu importieren, die dort selbst gar nicht mehr abgesetzt werden können. Das Leistungsbilanzdefizit der USA, Chinas Devisenüberschüsse, Deutschlands Exportüberschuss verdecken alle ein und dasselbe: Ein weltweiter Zirkus von Überausbeutung und Überschuldung hält eine Produktion am Leben, die sich der Globus längst nicht mehr leisten kann.
Während jedoch in den USA das Leistungsbilanzdefizit schon lange am Pranger steht, ist die Exportorientierung der deutschen Wirtschaft immer noch eine heilige Kuh. In bestimmten gewerkschaftlichen und betrieblichen Kreisen wird dies mit der deutschen Qualitätsarbeit und dem hohen technologischen Know-how begründet, auf die jeder deutsche Facharbeiter natürlich, und mit Recht, stolz ist. Darüber wird jedoch übersehen, dass der Spitzenplatz in der Exporttabelle schon lange nichts mehr mit einem Spitzenplatz in der technologischen Entwicklung zu tun hat. Technologisch ist die deutsche Industrie in der I+K-Technologie abgehängt, in der Antriebstechnologie für private Fahrzeuge von Japan überholt, und in der Energietechnologie droht sie von den USA überholt zu werden, wenn die Bundesregierung weiter den bornierten Interessen der Konzerne nachgibt. Es ist schon ein Treppenwitz der Geschichte, dass nun ausgerechnet die USA, die sich bislang standhaft geweigert haben, das Kyoto-Protokoll zu unterzeichnen, in Sachen Klimaschutz „den Europäern“ Dampf machen (und hier Deutschland, Frankreich und Polen die bisherigen Klimaziele am liebsten wieder kündigen würden).
Es geht bei der Kritik der Exportabhängigkeit nicht um die beste Technologie, sondern um weltwirtschaftliche Ungleichgewichte, die dem liberalen Dogma der „komparativen Standortvorteile“ folgen. Sie implizieren nämlich, dass alle Produktion auf den Weltmarkt ausgerichtet wird und der gesamte Globus in einen riesigen Binnenmarkt verwandelt wird, zu dem jedes Land eine Spezialität beisteuert. Ökologischer Raubbau durch überhöhten Verkehr und internationales Lohndumping sind eine Folge dieser Orientierung. Sie hindert die Länder des Südens daran, ihren eigenen industriellen Entwicklungsweg zu finden; sie befeuert eine Industrieansiedlungspolitik „ex und hopp“, bei der Arbeitsplätze und Umwelt auf der Strecke bleiben. Geradezu verheerend wirkt sie im Bereich der Nahrungsmittelproduktion, weil sie der bäuerlichen Landwirtschaft auf dem gesamten Globus den Garaus macht.
Die weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte müssen abgebaut werden. Dazu gehören insbesondere die Schuldknechtschaft der Länder des Südens, die Abhängigkeit ihrer Bauern und Bäuerinnen von den Saatgutkonzernen sowie eine Bodenreform, die bäuerliches Eigentum schafft und die Spekulation der Konzerne mit Ackerland unterbindet. Zwischenhandel und Lebensmittelkonzerne müssen ausgeschaltet werden. Im Agrarbereich wie im Energiebereich sind regionale Wirtschaftskreisläufe zu schaffen.
 
Im Gegensatz zu den 30er Jahren unternehmen die herrschenden Klassen diesmal große Anstrengungen, die vergangenen Fehler nicht zu wiederholen: Sie suchen die Kooperation auf internationaler Ebene, die Stärkung und sogar Ausweitung der internationalen Institutionen, verbieten sich Handelsprotektionismus. Aber dabei stehen sie in Konkurrenz zueinander, und ihre Neigung ist groß, dass jeder Staat dem eigenen Kapital zu Hilfe kommt und darüber die Konflikte untereinander zunehmen. Man spricht jetzt wieder von einer „multipolaren Welt“, das klingt freundlich, verbirgt aber, dass sich jetzt mehr Kater im Hof um die Revierhoheit balgen. Trotz entgegenlautender Absichten werden die internationalen Spannungen zunehmen, und das wird auch militärische Konsequenzen haben. Letzten Endes bleibt der Kapitalismus national verfasst: Der IWF soll eine neue Aufgabe bekommen – wer gibt ihm das Geld dafür? Er soll den Kreditgeber in letzter Not spielen – wie viele Staatsbankrotte kann er finanzieren? Welche Auflagen kann er dafür verhängen?
In den USA tritt die Regierung Obama nach dem Desaster der Bush-Regierung – mit viel Kredit – an, das internationale Vertrauen in die technologische und militärische Führungsrolle der USA wieder herzustellen; ob ihm das gelingt, hängt auch von der innenpolitischen Situation ab. Die Linke ist sich dort bewusst, dass sie von Obama nur bekommen werden, was sie ihm abtrotzen. Ein neuer Aufschwung der Klassenkämpfe in den USA ist möglich – er hätte enorme Auswirkungen auf Europa.
Die fortschrittlichen Länder Lateinamerikas fürchten sich vor der Ansteckung durch die Krise und diskutieren eine Stärkung ihrer kontinentalen Strukturen (ALBA, Banjo del Stur). Ähnliche Regionalblöcke können sich in Asien bilden. Der globalisierte Kapitalismus würde dadurch ein ganz neues Gesicht erhalten, und wer weiß, welche politischen und militärischen Spannungen das mit sich brächte.
Die EU steht vor ganz neuen Herausforderungen. Der Stabilitätspakt ist Makulatur und wird derzeit von der Kommission und vom Rat verschämt beiseite gestellt. Damit sind die Probleme jedoch nicht vom Tisch; einige osteuropäische Länder (Ungarn, Ukraine etc.) mussten Geld von der EZB leihen, um den Staatsbankrott zu vermeiden – und die EZB hat sang- und klanglos ihr Dogma preisgegeben, dass sie allein über die Preissteigerung zu wachen hat. Mit der Ausweitung der öffentlichen Verschuldung in allen EU-Ländern verschärfen sich jedoch auch die Ungleichgewichte zwischen den Ländern der Eurozone (Griechenland, Italien!) und es stellt sich die Frage, ob diese Länder den Euro einmal aufgeben müssen – und was das für Folgen hat.
Auf der anderen Seite gibt es auch Tendenzen, die die EU-Integration stärken: In Großbritannien und Skandinavien sind durch die Krise die Vorbehalte gegen den Euro schwächer geworden, der sich als „starke Währung“ behauptet hat. Die Finanzkrise führt auch zu einer grenzübergreifenden Bankenkonzentration (BNP/Forts Belgien). Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich ein Sektor europäischer (multinationaler) Banken herausbildet. Eine Europäisierung der Bankenaufsicht (Kooperation bei der Schließung der Steueroasen usw.) ist schon im Visier. Und auch eine Steuerharmonisierung ist nicht mehr in demselben Maße tabu wie noch vor einiger Zeit. Auf europäischer Ebene scheint eine Rückkehr zu den Nationalstaaten nach wie vor ausgeschlossen.
Man darf die Schaukämpfe auf dem europäischen Parkett allerdings auch nicht überbewerten. Sarkozys Forderung nach einer europäischen Wirtschaftsregierung bedeutet keine Abkehr vom Binnenmarkt, noch vom Vorrang der Wirtschaftsinteressen vor den sozialen Interessen. Im banalsten Fall geht es dabei um die Anmeldung größerer Gestaltungsansprüche Frankreichs in der EU; im ernsteren Fall verbergen sich dahinter Bestrebungen, die nicht nur Frankreich verfolgen wird, die europäische Ebene noch stärker zu einer unkontrollierten, undemokratischen und autoritären Exekutive auszubauen. Mehr europäische Integration bedeutet unter den gegebenen Umständen immer auch mehr Absolutismus.
Es gibt wenig Politikfelder, wo sich die Schwäche der Linken so deutlich zeigt wie bei der EU. Sie schwankt zwischen ihrer grundsätzlichen Bejahung und einem Nein, das sich zurück in den Nationalstaat flüchtet. Selbst das französische Nein, das sich auf eine so breite Bewegung stützen konnte, hat es nicht vermocht, die Bewegung über den Sieg im eigenen Land hinaus zu tragen und zu verlängern um die Perspektive: Wir ruhen nicht eher, als bis eine breite europäische Bewegung für das Nein zum Lissabon-Vertrag ein europaweites Referendum erzwingt. So sind auch die Iren mit ihrem Nein allein geblieben und riskieren nun, dass es ihnen durch eine erneute Abstimmung wieder kassiert wird.
Die Union Europa muss neu konstituiert werden, in einem verfassungsgebenden Akt von unten. Nur auf dieser Basis ist ein soziales Europa möglich: die wirtschaftliche und politische Stärkung der Regionen, ein Lastenausgleich zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, die Definition von Mindeststandards für soziale Rechte, ein Maximum an Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Willensbildung und eine solidarische Kooperation mit den Ländern des Südens.

5. Eine weltweite Bewegung für eine solidarische Wirtschaft

Aus den Teilkämpfen der letzten 10 bis 15 Jahre sind in zahlreichen Sektoren der Gesellschaft Konzepte für Alternativen entstanden: Einige von ihnen betreffen die öffentliche Daseinsvorsorge und den Kampf gegen die Privatisierung, andere betreffen die Rückkehr zur bäuerlichen Landwirtschaft, die Festlegung mindestens europaweiter Mindestlöhne (und Höchstlöhne) und Mindesteinkommen; die Frage einer radikalen Arbeitszeitverkürzung gewinnt neu an Aktualität. Auf eine entwickelte Diskussion können wir auch im Hinblick auf Konzepte für eine umweltverträgliche Energieversorgung, für eine allgemeine Entschleunigung und Neuordnung des Verkehrswesens und für neue Ansätze eines patientennahen und vorbeugenden Gesundheitssystems blicken.
Was fehlt, ist die Bündelung all dieser Konzepte zu einer gesamtgesellschaftlichen Alternative. Um das zu realisieren, muss das heiße Eisen Planwirtschaft angepackt werden. Planwirtschaft hat in Deutschland einen schlechten Ruf, weil sie in der DDR über die Köpfe der arbeitenden Bevölkerung hinweg und unter dem Monopol einer Partei, ohne Transparenz, Debatten über Alternativen und reale Mitwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten durchgeführt wurde. Planwirtschaft übersetzt sich auf deutsch aber mit: Gemeinwirtschaft und heißt zunächst einmal nichts anderes, als dass weite Bereiche der Wirtschaft der privaten Verfügungsgewalt und den Marktgesetzen entzogen sind. In Sachen Gemeinwirtschaft gibt es auch in Westdeutschland viel schlechte Erfahrung: Verselbständigung, Spekulation, Korruption, mangelnde öffentliche Kontrolle, Verfilzung mit „der Politik“. Es ist für die Qualität der Gemeinwirtschaft also sehr wichtig, dass der Qualitätsstandard und die Kontrollmechanismen genau festgelegt werden.
Eine demokratische Gemeinwirtschaft erfordert eine aktive, partizipierende Öffentlichkeit, den Staatsbürger und die Staatsbürgerin als tatsächlichen Souverän. Sie erfordert ein neues, erweitertes Demokratiemodell, das über die bekannten sozialstaatlichen Institutionen weit hinausgeht. Die Öffentlichkeit, die gefordert ist, ist eine republikanische – eine, die den Bürger / die Bürgerin als aktiven Staatsbürger / aktive Staatsbürgerin sieht.


Angela Klein, 10.12.2008

Quelle: internationale sozialistische linke (isl)