Robert O. Paxton: Anatomie des Faschismus.
Hermann Dworczak
24.04.2007
Robert O. Paxtons herausragendes Buch „Anatomie des Faschismus“
(München, Deutsche Verlagsanstalt) überrascht auch durch seine
prozesshafte Methode. Statt eine im Hegelschen und Marxschen Sinne
„abstrakte“ Formel für den Faschismus zu geben, wird zu Beginn an
dessen konkret-historische Funktion erinnert: Schaffen einer „Diktatur
gegen die Linke unter der begeisterten Zustimmung der Bevölkerung“.
Ein weiter methodischer Baustein ist für Paxton wichtig: „Ich
konzentriere mich im Gegensatz zur üblichen Praxis stärker auf die
Handlungen der Faschisten als auf ihre Worte". Genesis und Entwicklung
des Faschismus werden als „Zyklus von fünf Stadien“ studiert: „(1) Die
Entstehung einer Bewegung; (2) ihr Verankerung im politischen System;
(3) ihr Griff nach der Macht; (4) die Machtausübung und schließlich,
(5) die längerfristige Entwicklung, wobei für faschistische Regimes
hier die Alternative Radikalisierung oder Niedergang lautete. Obwohl
jedes Stadium eine Voraussetzung für das nächste ist, muss keine
faschistische Bewegung sie alle durchlaufen.“
Der Erste Weltkrieg war die „entscheidenste direkte Vorbedingung für
den Faschismus". Nach Kriegsende und seinen sozialen und politischen
Verwerfungen stürzte „eine Bevölkerung, die gelernt hatte, öffentliche
Lösungen der ökonomischen Probleme zu erwarteten, ins Ungewisse.“
Bereits die faschistischen „Urprogramme“, welche die Krisenlage
reflektierten und erst die Praxis zeigten, dass der „Antikapitalismus
der Faschisten höchst selektiv war“. Um an die Macht zu kommen, trafen
Mussolini und Hitler pragmatische Entscheidungen – gegen die
faschistischen „Puristen.“
Entgegen allen Mythenbildungen kamen Mussolini und Hitler nicht via Coup d'Etat, sondern
durch Zusammenarbeit mit (Teilen von) konservativen Eliten an die
Macht. Es kam zu einem „Herrschaftskompromiss.“ Paxton durchaus
differenziert: „Das Nazi-Regime und die Wirtschaft hatten
konvergierende, aber keine identische Interessen".
Die Machtergreifung von Mussolini und Hitler war in keiner Weise
„unvermeidlich.“ Die Politik liberaler und konservativer Eliten bzw.
das Versagen der ArbeiterInnenbewegung machte sie möglich. Paxton
bewusst provokant: „Die genauere Betrachtung wie faschistische Führer
Regierungschefs wurden, ist eine Übung in Antideterminismus.“
Im Schlusskapitel wird die Frage diskutiert, ob ein „updated“
Faschismus heute möglich ist. Paxton bejaht diese Möglichkeit, verweist
jedoch auf wesentliche Unterschiede zur Zwischenkriegszeit: u.a. das
andere ökonomische Ambiente im Gegensatz zur Großen Depression oder den
weitgehenden Verzicht der aktuellen extremen Rechten auf den „Primat
der Politik“ also das Setzen auf den „freien Markt.“
Sehr informativ und hilfreich ist der abrundende „Bibliografische
Essay“ (S. 322 ff.). In knapper, kommentierter Form wird die wichtigste
Literatur vorgestellt – in der Bandbreite „Allgemeine Arbeiten“ bis hin
zu „Faschistische und neofaschistische Bewegungen seit 1945.“
Hermann Dworczak
Robert O. Paxton: Anatomie des Faschismus.
München, Deutsche Verlagsanstalt, 447 Seiten, 20,60 Euro.