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Marc Thörner: Schießen auf Verdacht. Eine Reportage über Krieg und Fundamentalismus

Die westlichen Truppen bewegen sich in Afghanistan mit gepanzerten Fahrzeugen, Stahlhelmen, Sicherheitskleidung und Hightechwaffen. Wie Außerirdische, die jeden Kontakt zur Bevölkerung verloren haben. Sie schießen auf Verdacht, um in einer Atmosphäre der Angst eigene Opfer zu vermeiden, dafür werden zivile Opfer der Afghanen billigend in Kauf genommen. Da es die aber eigentlich nicht geben darf, denn das macht Ärger an der Heimatfront, werden zivile Opfer schlicht geleugnet - oder kurzerhand als Kämpfer von al-Qaeda und Taliban gebrandmarkt, wie Marc Thörner anhand mehrerer Beispiele herausarbeitet. Diese falschen Auskünfte heißen im internen Sprachgebrauch "strategische Informationen".

30.04.2010

März 2009, Imam Sahib, eine Kleinstadt in der Nähe des deutschen Feldlagers in Kundus, Afghanistan. Bei einem Sturm auf das Anwesen des Ortsvorstehers Sufi Manan tötet ein US-Sonderkommando fünf seiner Hausangestellten. Angeblich, so die offizielle Version des US-Militärs, habe es sich um Notwehr gehandelt.

Die Hausangestellten seien wild um sich schießende  Al-Qaeda-Leute gewesen. Marc Thörner, der zwischen Juni 2008 und November 2009 insgesamt viermal Afghanistan bereiste, kommt bei seinen Recherchen vor Ort zu einem anderen Ergebnis: Es hat - wie so oft - unschuldige Zivilisten getroffen.

 

In seinen einfühlsamen Reportagen lässt er nicht locker, hinterfragt, trifft Angehörige und Augenzeugen, konfrontiert Militärs mit ihren Widersprüchen und Schutzbehauptungen. "Schießen auf Verdacht", das ist nicht nur eine US-amerikanische Spezialität, auch deutsche Bundeswehreinheiten bedienen sich dieser Methode.

Die westlichen Truppen bewegen sich in Afghanistan mit gepanzerten Fahrzeugen, Stahlhelmen, Sicherheitskleidung und Hightechwaffen. Wie Außerirdische, die jeden Kontakt zur Bevölkerung verloren haben. Sie schießen auf Verdacht, um in einer Atmosphäre der Angst eigene Opfer zu vermeiden, dafür werden zivile Opfer der Afghanen billigend in Kauf genommen. Da es die aber eigentlich nicht geben darf, denn das macht Ärger an der Heimatfront, werden zivile Opfer schlicht geleugnet - oder kurzerhand als Kämpfer von al-Qaeda und Taliban gebrandmarkt, wie Marc Thörner anhand mehrerer Beispiele herausarbeitet. Diese falschen Auskünfte, die auch das deutsche Verteidigungsministerium öffentlich verbreitet, heißen im internen Sprachgebrauch "strategische Informationen".

 

Marc Thörner beschreibt, wie die westlichen Militärs in diesem Krieg den islamischen Fundamentalismus regelrecht befördern. General Dostum und Governeur Atta sind Statthalter des Westens, zwei Kriegsherren, die im Norden Afghanistans, also unter deutscher Aufsicht, ihre Machtimperien ausbauen. Ihre Karrieren reichen bis in die Zeit zurück, als die USA zusammen mit Saudi-Arabien und Pakistan in den 80er und 90er Jahren fundamentalistische Mujaheddin aufrüsteten und trainierten - für den Heiligen Krieg gegen die von der Sowjetunion unterstützte Regierung in Kabul.

 

Damals wie heute gehen die Warlords willkürlich gegen die Bevölkerung vor, sie lassen morden, brandschatzen und vergewaltigen. Nur dass heute vor allem die Paschtunen zur Zielscheibe geworden sind, die hierzulande all zu oft mit den Taliban gleichgesetzt werden. Vor Strafverfolgung sind die Kriegsherren und ihre Gefolgsleute sicher, denn die Provinzrichter werden von ihnen selbst eingesetzt. Mit Hilfe restriktiv ausgelegter Sharia-Gesetze machen die Warlords ihren Kritikern das Leben zur Hölle. Auch ihr Einfluss auf den amtierenden Präsidenten Karzai ist beträchtlich.

 

Marc Thörner schildert den aufwändig recherchierten Fall des kritischen Journalisten Yacub Ibrahimi, dessen Bruder, ein Student, wegen angeblicher Gotteslästerung von Richtern zunächst zum Tode, dann von einem Berufungsgericht zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde. Dem waren offene Drohungen gegen Ibrahimi und seine Familie vorausgegangen, weil dieser gewagt hatte, die Politik der Warlords in seinen Artikeln anzuprangern.

 

Thörners Buch entlarvt den Mythos des Afghanistan-Einsatzes. Es liefert einen weiteren Beweis, dass es unmöglich ist, mit Militäreinsätzen demokratische, menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen.

 

Um die geostrategischen Interessen des Westens in der Region abzusichern, setzen die ISAF-Truppen in Afghanistan heute auf skrupellose Kriegsherren, die eine gewisse Stabilität versprechen, von der Bevölkerung in Afghanistan aber ebenso abgelehnt werden wie die Taliban. Dabei greifen die westlichen Kampfverbände offen auf koloniale Militärstrategien zurück, wie Thörner in den Gesprächen mit den Militärs herausgefunden hat: Mit Hilfe konservativer und fundamentalistischer Autoritäten soll eine Herrschaft im Sinne der westlichen Interessen aufrecht erhalten werden.

 

Thörners Fazit: Der islamische Extremismus bedroht den Westen nicht - er ist vielmehr ein wichtiges Element, um dessen Hegemonie zu sichern.

 

Gerhard Klas

 


Marc Thörner; Schießen auf Verdacht. Eine Reportage über Krieg und Fundamentalismus
Hamburg: Edition Nautilus, 2010
160 Seiten, ca. 16 Euro