Helmut Dahmer: Divergenzen - Holocaust, Psychoanalyse, Utopia
Helmut Dahmer veröffentlichte eine Sammlung von teils veröffentlichten teils unveröffentlichten Texten. Der Autor: "Wenn „Divergenzen“ Abweichungen vom Common sense sind, vom Common sense recht verschiedener Gruppen und Cliquen, dann ist dies Buch so etwas wie eine Dokumentation bestimmter solcher „Abweichungen“ und der Versuche, sie zu begründen." In einer Selbstdarstellung des Autors zu seinem Buch präzisiert er, worum es ihm bei der Publikation geht...
12.02.2010
Aus vielen kleinen und einigen umfangreicheren – veröffentlichten und unveröffentlichten – Texten, die ich in den vergangenen drei Jahrzehnten geschrieben habe, wurden für die hier vorliegende Sammlung solche ausgewählt, die mir relevant genug schienen, um sie einem Publikum von ein paar Hundert möglichen Interessenten vorzulegen. Wenn „Divergenzen“ Abweichungen vom Common sense sind, vom Common sense recht verschiedener Gruppen und Cliquen, dann ist dies Buch so etwas wie eine Dokumentation bestimmter solcher „Abweichungen“ und der Versuche, sie zu begründen.
Den Anfang in dem „Souterrain“ überschriebenen I. Teil macht ein kurzer Text aus dem „Deutschen Herbst“ des Jahres 1977. (In Mogadischu war die „Landshut“, ein gekapertes Flugzeug, von einer deutschen Spezialeinheit gestürmt worden; drei führende Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“, die freigepreßt werden sollten, kamen im Gefängnis von Stammheim zu Tode; der Arbeitgeberpräsident Schleyer wurde von seinen RAF-Entführern umgebracht.) Der Kommentar „Circenses und Sympathisanten“ galt der Suche nach einer Alternative, einer Alternative zu dem Projekt der „Roten Armee Fraktion“, durch individuellen Terror die Verhältnisse in der Bundesrepublik zu ändern, und zu dem Gegenprojekt der damaligen Bundesregierung – der gnadenlosen Terroristenjagd. Beide Seiten schienen mir – im Schatten des „Dritten Reichs“ und des “Holocaust“ – ein jahrzehntealtes deutsches Stück nachzuspielen: das Stück von der „kommunistischen Gefahr“ und vom Ausnahmezustand zu deren Bekämpfung.
Über die Kritik der Abwehrstrategie der „etablierten“ westdeutschen Historiker in der sogenannten „Goldhagen-Kontroverse“ vor mehr als einem Jahrzehnt geht es dann weiter zu einer Reihe von Texten, die der Erklärung und Bekämpfung der fremdenfeindlichen Welle galten, die sich nach der deutschen Wiedervereinigung Bahn brach (und in den neunziger Jahren mehr als 100 Tote forderte). Den Abschluß bilden ein (im Hinblick auf die Arbeit der peruanischen „Wahrheitskommission“ geschriebener) Text über das „Leben im Zeitalter der Massaker“ und eine Analyse des Flugzeugattentats auf die Twin-Towers samt einer In-Frage-Stellung der Möglichkeit eines „Kriegs“ gegen den Terror.
Im II. Teil geht es um die bisherige Geschichte der Freudschen Aufklärung, die ich als eine Kritik von Institutionen der Gesellschaft und der Seele auffasse. Verkennung und Verfemung haben im Verlauf von Jahrzehnten zu einer Selbst-Reduktion der Freudschen Theorie-Therapie geführt, soweit deren Tradierung in den Händen von Zunftgenossen der „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“ lag. Das Licht der Psychoanalyse steht darum seit langem „Unterm Scheffel“. Eine Revision der Reduktion der Psychoanalyse auf eine mit dem Odium des „Veralteten“ belastete, „weiche“ Therapie am Rande von Medizin und Psychiatrie erwarte ich von einer Renaissance der sogenannten „Laienanalyse“ und von „Freudianern“, die nicht von der Psychotherapie leben.
In einem Anhang zum II. Teil des Buches habe ich meinen Konflikt mit Vertretern der „offiziellen“ Psychoanalyse dokumentiert, der aus der Rekonstruktion der Anpassungspolitik vieler deutscher (nichtjüdischer und nichtsozialistischer) Psychoanalytiker in der Zeit der Hitlerdiktatur resultierte. Die überaus heftige Abwehr dieses Aufklärungsversuchs führte zu einem Bruch zwischen konformistischen und nonkonformistischen Freudianern, der es einige Jahre später möglich machte, die zwei Jahrzehnte lang von mir als ein unabhängiges Forum für Psychoanalyse geleitete Zeitschrift Psyche mit Hilfe eines Gerichtsverfahrens unter die Kontrolle des Stuttgarter Klett-Cotta-Verlags zu bringen.
Im III. Teil geht es – unter dem Titel „Utopia“ – um das Projekt einer nachkapitalistischen Gesellschaft. Die Frühsozialisten (wie Rimbaud oder Bakunin) haben davon geträumt, und die russischen Jakobiner, die Bolschewisten, haben versucht, mit seiner Realisierung in einem riesigen, unterentwickelten Bauernland zu beginnen, indem sie einen Vorposten der internationalen Revolution bildeten und diesen gegen alle Widerstände von innen und außen verteidigten. Ihre Nachfolger, die russischen Thermidorianer oder Stalinisten, haben dann aus der Not der Isolation ihre Tugend gemacht. Sie lebten in dem Wahn, mit Hilfe des Massenterrors, der viele Millionen Menschen verschlungen hat, die Wirtschaft der Sowjetunion so weit beschleunigen zu können, daß sie die hochentwickelten kapitalistischen Länder einholen und überholen werde. Die blutrünstige Despotie Stalins und das autoritäre Mangel- und Ungleichheitsregime seiner Nachfolger haben die sozialistische Theorie und Praxis nachhaltig diskreditiert. Die libertär-sozialistischen Minderheiten sind heute wieder in einer Situation, die der ihrer Vorläufer in der Zeit vor 1914 ähnelt: Das menschenverschlingende „Vaterland“, in dem die Arbeiter nichts zu melden hatten, ist untergegangen. Die entscheidende Differenz zu der Situation von vor 100 Jahren besteht freilich darin, daß die totalitären Regime Stalins und Hitlers die alte Arbeiterbewegung zerstört haben. Heute gibt es keine nach Hunderttausenden oder Millionen zählenden Organisationen mehr, deren Ziel die Überwindung der kapitalistischen Institutionen wäre. Es sieht vielmehr ganz danach aus, als werde die Transformation der kapitalistischen Weltordnung weitere Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte in Anspruch nehmen – sofern diese Geschichte nicht überhaupt „mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“ (Marx) endet.
Die 59 hier aufgenommenen Texte oder Mosaiksteine gruppieren sich zu einer Art Triptychon: Das Gegenstück zur Geschichte von Terror und Holocaust ist die Geschichte der vereitelten sozialistischen Alternativen. Die Entwicklung der kapitalistischen Weltwirtschaft ist ein Prozeß, in dem die Voraussetzungen für eine andersartige Gesellschaft geschaffen werden, die ohne Hunger, Terror und Krieg auskommen kann. Doch die im Rahmen der Renditenwirtschaft erschlossenen Produktivkräfte dienen stets auch der Verteidigung obsoleter Institutionen – des Privateigentums an Produktionsmitteln und des Nationalstaats. So wird die Realisierung des Potentials der bestehenden Gesellschaft hintangehalten. Und darum ist die „Daseinsform“ der kapitalistischen Entwicklung eine perennierende Katastrophe (Rosa Luxemburg).
Marx und Freud, die materialistischen Erben der Hegel-Schellingschen Geschichts- und Naturphilosophie, haben versucht, das Rätsel der bürgerlichen Gesellschaft zu lösen, deren innere Widersprüche sie über sich hinaustreiben und die einstweilen doch immer wieder auf sich zurückgeworfen wird. Kapital und Traumdeutung dokumentieren den Versuch, über ein „falsches“ Bewußtsein hinauszukommen, das die „ewige Wiederkunft des Gleichen“ verbürgt. In beiden Fällen zeigt sich, daß nur der Rückweg die Aussicht auf einen Ausweg eröffnet: die Rekonstruktion (oder Anamnesis) der Genese (Adorno) jener Kalamität, in der wir uns befinden.
Helmut Dahmer (Wien)