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Enzo Traverso: Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914–1945

Paul Kleiser

Traversos neues Buch ist eine äußerst kenntnisreiche und beeindruckende Analyse der Barbarei in der Zivilisation, die zeigt, welches Ausmaß an menschlichem Leid und Zerstörung das Überleben des Kapitalismus aufgrund der Niederlagen der Gegenkräfte angenommen hat.

28.01.2009

Enzo Traverso hat nach "Die Marxisten und die jüdische Frage" und "Auschwitz denken" mit "Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914-1945" sein drittes großes Werk vorgelegt. Dem Autor geht es nicht darum, der kaum noch überschaubaren Literatur über die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ein weiteres Geschichtswerk hinzuzufügen; vielmehr liegt der Schwerpunkt der Darstellung auf der kritischen Sichtung und Diskussion der Darstellungen und Interpretationen (von ganz rechts bis ganz links) dieses "zweiten dreißigjährigen Krieges".
Dabei zeigt Traverso auf, dass die heute vorherrschende liberale Geschichtsdeutung mit ihrer Theologie, wonach die Geschichte mit dem vorgeblichen Sieg von Demokratie und Marktwirtschaft zu ihrer eigentlichen Bestimmung gelangt sei, kein angemessener Deutungsrahmen für die sozialen Kämpfe der damaligen Zeit ist. "Man verfällt also in einen perspektivischen Irrtum, wenn man durch die Brillen eines Jürgen Habermas und John Rawls eine Zeit analysieren will, die einen Ernst Jünger und einen Antonio Gramsci, einen Carl Schmitt und einen Leo Trotzki hervorgebracht hat." Schon Marx hatte sich in der Restaurationsperiode Anfang der 1850er Jahre über die Liberalen mokiert: "Es hat eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr."
Die Diskussion um die historische Einordnung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und insbesondere des sogenannten Dritten Reiches begann in Deutschland Mitte der 80er Jahre mit dem "Historikerstreit". Ausgelöst wurde er durch Ernst Noltes verquaste These, der Nationalsozialismus sei nur eine Reaktion auf die Oktoberrevolution und den Bolschewismus gewesen. Folgerichtig ließ er dann sein Buch über den Europäischen Bürgerkrieg nicht 1914, sondern 1917 beginnen. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks schwoll die Bücherflut zur Interpretation des vergangenen Jahrhunderts massiv an. Die anspruchvollsten Entwürfe stammten von dem Konvertiten François Furet (Das Ende einer Illusion) und E. Hobsbawm (Das Zeitalter der Extreme).

Enzo Traverso verbindet im ersten Teil des Buches eine europäische Gesamtschau der fraglichen Epoche im Vergleich zum "langen 19.Jahrhundert" mit einer Darstellung der inneren Verkettung der zahlreichen Konflikte. Der Zusammenbruch der vier Säulen im Ersten Weltkrieg, die laut Karl Polányi das Jahrhundert trugen: das Mächtegleichgewicht, die Vermarktwirtschaftlichung infolge der industriellen Revolution, der Goldstandard und die Rechtssicherheit, erzeugte bis dahin nicht für möglich gehaltene Exzesse von Gewalt. Überhaupt wurde der Erste Weltkrieg zu einem Laboratorium technologischer Neuerungen mit chaotischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Im zweiten Teil des Buches geht es ihm mehr um Generationen und Mentalitäten und die psychosozialen und kulturellen Leitbilder dieser Zeit; ein besonderes lesenswertes Kapitel über die "Widersprüche des Antifaschismus" rundet das Ganze ab.

Traverso analysiert die Zeit zwischen dem Beginn des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs als den dritten "europäischen Bürgerkrieg" (nach dem Dreißigjährigen Krieg und der Epoche der Französischen Revolution). Dieser Bürgerkrieg war weder ein "Ereignis" noch eine "Langzeitbewegung", sondern ein "Zyklus", "in dem sich eine katastrophale Ereigniskette – Krisen, Konflikte, Kriege, Revolutionen – zu einem geschichtlichen Umbruch verdichtete". Dieses Konzept fand bereits im Umkreis des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolution Anwendung, als eine Reihe von Arbeiten über den Aufstieg und Niedergang von Zivilisationen erschienen. Zu den bekanntesten Autoren zählen Oswald Spengler, Nikolai Kondratjew und Leo Trotzki.
Von einem "Bürgerkrieg" zu sprechen, gebietet der "totale Charakter" dieses Krieges, in dem zahlreiche Konflikte ineinander verwoben waren: "Kapitalismus gegen Kollektivismus, Freiheit gegen Gleichheit, Demokratie gegen Diktatur und Universalismus gegen Rassismus".

Während des europäische Recht nach dem Dreißigjährigen Krieg Leitlinien entwickelte, um nach festen Regeln Kriege erklären und führen zu können, wurden diese Regeln im Ersten Weltkrieg immer mehr geschleift. Der Krieg wurde zu einem "technologischen Massaker". Auf die Heldenverehrung des für das Vaterland Gefallenen folgte das Grabmal des unbekannten Soldaten. Die Logik der Kolonialkriege gegen die "Unzivilisierten und Barbaren", auf welche das europäische Recht keine Anwendung gefunden hatte, wurde nun wieder nach Europa importiert: Die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten verschwand zunehmend.
Während die Mehrheit der Intellektuellen den Faschismus in Italien wenig begriffen und seiner "neuen Ordnung" sogar Beifall zollten, änderte sich dies mit Hitlers Machtergreifung und besonders im Spanischen Bürgerkrieg: Es entstand eine antifaschistische Kultur mit Breitenwirkung. Sie war jedoch vor allem Exilkultur zur Verteidigung der bedrohten Zivilisation. Da sie eine emanzipatorische Hoffnung benötigte, orientierte man sich größtenteils an der Sowjetunion, was bewirkte, dass die Verbrechen des Stalinismus kaum wahrgenommen oder sogar völlig verdrängt wurden.

Traversos neues Buch ist eine äußerst kenntnisreiche und beeindruckende Analyse der Barbarei in der Zivilisation, die zeigt, welches Ausmaß an menschlichem Leid und Zerstörung das Überleben des Kapitalismus aufgrund der Niederlagen der Gegenkräfte angenommen hat.

Paul Kleiser