Dschingis Khan und der Telegraph
Gustavo Gorriti
24.04.2007
Ein Gespräch mit Helmut Dahmer über den Terrorismus – vor allem
darüber, inwieweit man den Terrorismus am Ausgang des 19. und zu Beginn
des 20. Jahrhunderts mit dem von heute vergleichen kann. Am Tag vor der
Präsentation seines Buches La Sociología después de un siglo de
barbarie (Soziologie nach einem barbarischen Jahrhundert) sprach
Gustavo Gorriti mit Helmut Dahmer.
Der wichtigste Unterschied zwischen den heutigen Terroristen und ihren
Vorgängern ist der ihres Bezuges zur Zeit. Die Anarchisten-Nihilisten
von damals verstanden sich als Wegbereiter der Zukunft; die Terroristen
von heute handeln im Interesse der Vergangenheit. Für die Erstgenannten
waren die „Propaganda der Tat“ und der Tyrannenmord Mittel, um die
Menschheit auf dunklen und niemals deutlich bezeichneten Pfaden zu
einer libertären, aufgeklärten, vom Absolutismus und von der Religion
befreiten Gesellschaft zu führen. Jene Terroristen waren (wenn auch
mehr oder weniger heruntergekommene) Kinder der Aufklärung.
Der integristische, kosmopolitische Terrorismus von heute atmet
hingegen den Geist (oder den Pesthauch) des Mittelalters. Theokratie
und Fanatismus versuchen, den Fortschritt mit den von ihm selbst erst
hervorgebrachten Mitteln rückgängig zu machen. Sie bedienen sich der
modernen Technik, um sie zu zerstören. Als am 11. September 2001 die
Zwillingstürme demoliert wurden, befand sich Osama bin Laden, der
Hauptorganisator der Flugzeug-Attentate, in seiner wichtigsten Basis,
Afghanistan. Afghanistan stand damals unter der Herrschaft der
Taliban-Theokraten, und es war ihnen gelungen, diese Nation zu dem
finstersten Ungeist des Mittelalters zurückzuführen. Die Taliban waren
der mittelalterlichen Sekte der „Assassinen vergleichbar, die einst von
dem „Alten vom Berge“ angeführt wurde – nur, dass er jetzt über ein
Laptop verfügte.
Kann uns ein Blick auf das 19. Jahrhundert dabei helfen, die Paradoxien
des 21. zu verstehen? Helmut Dahmer erinnert an eine Bemerkung des
großen radikalen russischen Schriftstellers Alexander Herzen in seiner
Zeitschrift Kolokol: „Am meisten fürchte ich einen Dschingis Khan, der
über einen Telegraphen verfügt.“
Dahmer fügt hinzu: „Heutzutage haben wir „Assassinen“, die Flugzeuge
fliegen.“ Dass man gegenwärtig so viele Menschen dazu bringen kann, in
die Vergangenheit zurückzumarschieren, zeigt – so Dahmer –, „dass es
ihnen an einer Alternative fehlt“: „Wenn die Demokratie versagt,
bekommen die Autoritären ihre Chance.“
„Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der großen Antizipatoren. Sie
waren in ihrem Denken frei, was die heutigen Intellektuellen in ihrer
Mehrheit nicht sind. Der Horizont hat sich um uns zusammengezogen, die
Menschen denken nicht mehr über ihre aktuelle Situation hinaus.“
Die Realität scheint dem zu widersprechen: In Tausenden von
Forschungszentren, Universitäten und Konzernlaboratorien macht die
Wissenschaft großartige Fortschritte, die Technik bringt die Magie in
unseren Alltag. Doch dieser Fortschritt führt zu einer fortschreitenden
Spezialisierung, und wenn es große Denker gibt, so finden sie kein
Gehör.
Hingegen treten in immer mehr Staaten militante Religiöse auf, die zum
Transzendieren der Gegenwart aufrufen, nicht mit Hilfe der Vernunft,
sondern dadurch, daß sie mit Gewalt das durchsetzen, was ihnen ihr
Glaube befiehlt.
Heute kommt einem Francis Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“
schon fast wie ein Witz vor. Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem
Untergang des „Kommunismus“ hätte vielleicht eine neue (mehr oder
weniger systematische) Aufklärung die Ideologien ablösen können, die
Millionen von Menschen während des 20. Jahrhunderts beherrscht haben.
Doch an die Stelle der verblassten Ideologien sind Werbekampagnen
getreten, die sich als „Philosophien“ verkleiden: hegemoniale
Illusionen, die nichts in Frage stellen. Und die daraus resultierende
Leere wurde alsbald mit militanter religiöser Propaganda aufgefüllt.
Eine Reaktion auf diese Propaganda gibt es heute leider meist nur im
Stil von George Bush.
Deshalb ist es erfrischend, sich mit der Arbeit von Helmut Dahmer zu
beschäftigen, der zu einer Klasse von Intellektuellen gehört, die immer
kleiner und randständiger wird. Er verkörpert den Typus eines
Philosophen, der nicht zögert, die großen Fragen des 19. Jahrhunderts
wieder aufzunehmen und inmitten der Unsicherheiten des 21. Jahrhunderts
unter den Trümmern, die der Versuch, einige der Ideen des 19.
Jahrhunderts zu verwirklichen, hinterlassen hat, nach neuartigen
Antworten zu suchen.
Dahmer, der gegenwärtig in Wien lebt, unterhält über seinen Kollegen,
den Psychoanalytiker César Rodriguez Rabanal (der auch Berater des
Präsidenten Toledo war), eine enge Beziehung zu Perú. Rodriguez lernte
er während des Studiums und der Studentenrebellion im Deutschland der
sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts kennen. Dahmer sagt, seine
Generation habe damals „einen definitiven Bruch mit der ihr
vorangehenden vollzogen“, mit der Generation des Nazismus, des Krieges
und des Schweigens. Darum war den Proteststudenten das Aufdecken und
das „Hinterfragen“ (bis hin zur Schmerzgrenze) so wichtig. Sie
verfuhren nach der Maxime Unamunos: „Erst die Wahrheit, dann der
Friede.“
Deshalb sei in Dahmers Buch vor allem die Lektüre des Kapitels über die
„Bewältigung der Nazi-Vergangenheit in Deutschland“ empfohlen, dessen
Überschrift in Klammern hinzugefügt ist: „und über die Bewältigung der
Vergangenheit in Perú“. Dieses Kapitel ist unter dem Eindruck des
Berichts der peruanischen „Kommission für Wahrheit und Versöhnung“ [der
im Jahre 2003 veröffentlicht wurde] geschrieben worden. Man muss nicht
mit allem einverstanden sein, was der Autor sagt. Doch die Klarheit
seiner Argumentation ist eine Herausforderung, und schon das gibt dem
Buch seinen Wert. „Tatsächlich“, schreibt Dahmer, „gibt es in bezug auf
die Geschichte eine objektive Schuld, die darin besteht, dass man sie
vergisst und sich nicht ausreichend informiert.“ Sucht man nach einem
„Ausweg aus der Sackgasse der Mordgeschichte“, dann muss man sich
informieren, nach der Wahrheit suchen und daraus Konsequenzen ziehen.
(Gustavo Gorriti / La República, Lima, 6.11.2005, S. 40)