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Buch: Sozialismus oder Barbarei!

Helmut Dahmer

Helmut Dahmer (Hg.): Leo Trotzki: Sozialismus oder Barbarei! Eine Auswahl aus seinen Schriften. Wien. Promedia-Verlag 2005, 175 Seiten, Euro 12,90

24.04.2007

Der Promedia-Verlag und der Herausgeber Helmut Dahmer, verfolgen mit der Publikation des Trotzki-Auswahlbandes, die Absicht, einen politischen Klassiker aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts der heutigen jungen Generation vorzustellen, für die der erste Weltkrieg, die Russische Revolution und die Zwischenkriegszeit Angelegenheiten ihrer Groß- und Urgroßeltern sind.
Es sollte ein preisgünstiger Band werden, dessen Umfang auf 175 Seiten festgelegt wurde – was etwa 6 Promille des geschätzten Gesamtwerks unseres Autors, also seiner Bücher, Aufsätze und Briefe entspricht. Ausgewählt wurden eine Reihe von kurzen, prägnanten Artikeln und Aufsätzen und eine Reihe von Auszügen aus zentralen Kapiteln von Büchern und Broschüren, die in ihrer Gesamtheit eine erste Vorstellung von Trotzkis Theorien und von seinem Stil vermitteln können.

Leo Trotzki wurde 1879 in dem ukrainischen Dorf Janowka (im weiteren Einzugsbereich von Odessa am Schwarzen Meer) als Sohn (und 5. Kind) eines wohlhabenden jüdischen Bauern geboren und entwickelte früh eine Begeisterung für das Lernen, die Bücher und das Schreiben. Noch als Gymnasiast kam er in Kontakt mit revolutionären Gruppen und illegaler Literatur und organisierte bald selbst geheime Arbeiter-Diskussions-Zirkel. Bald nach dem Abitur wurde er verhaftet und (1899) ohne Strafverfahren zu 4 Jahren Verbannung verurteilt. Im Gefängnis machte er sich mit der Marxschen Theorie (in einer nicht-orthodoxen, an Hegel orientierten Version) vertraut. 1901 begann er, für die sibirische Presse Sozialreportagen und literarische Essays zu schreiben. Als Journalist und Literaturkritiker war er – wie später als Soziologe und Historiker, als Organisator, Kriegskommissar und Ökonom – ein genialischer Autodidakt. 1902 floß er aus der sibirischen Verbannung über Wien und Zürich nach London und nahm mit den Führern der sozialdemokratischen Internationale Kontakt auf. Auf dem 2, dem Spaltungsparteitag der russischen Sozialdemokraten im Jahre 1902 stellte er sich gegen Lenin (und dessen Mehrheitsfraktion, die „Bolschewiki“). In den fraktionellen Auseinandersetzungen der Folgezeit nahm er bald eine unabhängige Position ein. Vor 100 Jahren, im Herbst 1905, wurde der 24-Jährige in die dreiköpfige Exekutive des Petersburger Arbeiterrats gewählt, rief am 5. 12. zum bewaffneten Aufstand auf, wurde am 16. 12. mit den anderen Führern des Arbeiterrats verhaftet und ein Jahr später „auf Lebenszeit“ nach Sibirien verbannt.
Als er im Februar 1907 abermals aus der Verbannung floh – und über Finnland und Deutschland Wien erreichte, wo er bis 1914 als Journalist mit eigener Zeitung (der „Wiener Prawda“) arbeitete, hatte er sein politisches Lebensprogramm bereits ausformuliert und veröffentlicht. Es bestand aus folgenden Komponenten:

1. Die kapitalistische Weltwirtschaft befindet sich im Endstadium ihrer Entwicklung; die Produktivkräfte (also die internationale Arbeiterklasse und die neuen Produktionstechniken) rebellieren in Kriegen und Revolutionen gegen die grundlegenden Institutionen der bestehenden Gesellschaft: das Privateigentum (also die Verfügung kleiner Gruppen mächtiger Finanziers über die gesellschaftliche Produktion) und den Nationalstaat.

2. Für die Entwicklung einzelner Länder (wie zum Beispiel Rußland) ist der internationale Kontext entscheidend. Es ist möglich, daß in einem rückständigen Land (mit „kombinierter Entwicklung“) ein Minderheiten-Proletariat – im Bunde mit der Mehrheit der Zwischenklassen und geführt von einer antikapitalistisch-internationalistischen Partei – die Staatsmacht erobert und mit deren Hilfe die Wirtschaft der demokratischen Kontrolle der Produzenten und Konsumenten unterwirft. Ob sich eine solche sozialistische Revolution in einem wirtschaftlich zurückgebliebenen Lande halten kann oder durch gegenrevolutionäre Kräfte im Inneren oder durch imperialistische Interventionstruppen überwältigt wird, hängt von der Entwicklung in den benachbarten Staaten, vor allem aber in den Zentren der kapitalistischen Entwicklung (Deutschland, Frankreich, England, den USA) ab.

3.  Die Revolution der internationalen Arbeiterschaft wird eine Revolution der Bevölkerungsmehrheit gegen die Minderheit des besitzenden Bürgertums (seines sozialen Anhangs und seiner Exekutivorgane) sein, oder sie wird nicht sein. Die Arbeiterrevolution bedarf nicht des Terrors, der Guillotine, der Straflager und der Erschießungskommandos. Bei der Selbstbefreiung der internationalen Arbeiterschaft kann (und darf) es keine Stellvertretung – durch Terroristen, geheime Zirkel von Berufsrevolutionären oder Kaderparteien – geben. Wie schon während der Pariser Kommune (1871) und in der russischen Revolution von 1905 wird sich die Arbeiterschaft neuartige, radikaldemokratische Selbstverwaltungsorganisationen („Räte“) schaffen, die die Keimform eines nachrevolutionären, „absterbenden“ Staates darstellen. Die sozialistische Revolution soll die „Verwaltung von Sachen“ an die Stelle der Menschenbeherrschung setzen; eine weltweite, demokratisch kontrollierte Bedarfsdeckungswirtschaft soll die Marktwirtschaft, die die Welt in reiche und verelendete Nationen aufspaltet, ablösen; der Staat, der sich (mit Bürokratie, Armee und Polizei) als bewaffneter Schiedsrichter über die Klassengesellschaft erhoben hat, soll – wie andere fetischisierte Institutionen – in die Gesellschaft (als einen „Verein freier Menschen“, Marx) zurückgenommen werden.

Während des ersten Weltkriegs bildete sich innerhalb der II. Internationale, die 1914 in nationale, bellizistische Parteien zerfallen war, ein linker Flügel von pazifistischen und revolutionären Kriegsgegnern heraus, deren Fraktionen sich bald zu neuen Parteien verselbständigten. Ein Teil der sozialistischen Kriegsgegner gründete 1919 eine neue, „kommunistische“ Internationale, die als „Generalstab der Weltrevolution“ den Befreiungskampf der unterdrückten Mehrheiten in den kapitalistischen Metropolen und in den Kolonialländern koordinieren sollte.
Trotzki kam im Mai 1917 aus New York nach Petrograd und verbündete sich mit Lenin. Beide hatten sich für die revolutionäre Beendigung des Weltkriegs und dafür ausgesprochen, die revolutionäre Situation in Rußland (und in anderen Ländern) zu nutzen, um dort erste „Vorposten“ der internationalen Revolution zu errichten. Gegenüber diesen Gemeinsamkeiten erschienen ihnen die fraktionellen Streitigkeiten der Vorkriegszeit als nahezu bedeutungslos. Im Laufe des Sommers und Herbstes 1917 eroberte die bolschewistische Partei (die von 40.000 auf 240.000 Mitglieder anwuchs) mit ihren Losungen „Das Land den Bauern !“, „Frieden ohne Annexionen !“, „Nieder mit den kapitalistischen Ministern !“ (der Provisorischen Regierungen) die Mehrheit in den städtischen Arbeiter- und Soldatenräten. Gestützt auf diese Mehrheit organisierte Trotzki im Auftrag des Petrograder Sowjets Anfang November den bewaffneten Aufstand gegen die Regierung Kerenski, der nur wenige Opfer kostete. Die erste Revolutionsregierung wurde von einer Koalition von Bolschewisten und Linken Sozialrevolutionären gestellt.
Im Bürgerkrieg gegen die (von imperialistischen Interventionstruppen unterstützten) weißen, pro-zaristischen Armeen leitete Trotzki seit dem Frühjahr 1918 die Operationen der von ihm geschaffenen Roten Armee. Zeitweilig beschränkte sich der Herrschaftsbereich der bolschewistischen Regierung auf die beiden Großstädte Moskau und Petrograd samt ihrem Umland. Ohne seinen sozialen Rückhalt bei der minoritären Arbeiterschaft und bei der großen Masse der landhungrigen Bauern hätte das neue Regime keine Überlebenschance gehabt.
Aus dem Bürgerkrieg ging die bolschewistische Partei als eine an Gewalt und Gegenterror gewöhnte, paramilitärische Organisation hervor, die als einzig verbliebene politische Organisation an Stelle der geschwächten Arbeiterschaft eine unbeschränkte Kontrolle über Staat und Wirtschaft ausübte und sogar die demokratischen Rechte ihrer Mitglieder empfindlich eingeschränkt hatte. Daß sich hinter der Fassade eines „Arbeiterstaats“ die alte zaristische Bürokratie reproduziert hatte, wenn auch „ein wenig rot lackiert“, hat Lenin selbst (so deutlich wie sonst nur die innerparteiliche Linksopposition und die Anarchosyndikalisten) ausgesprochen. Trotzki ging 1923 in Opposition zur nachrevolutionären sowjetischen Bürokratie und ihrer innerparteilichen Repräsentanz, dem Triumvirat Stalin-Sinowjew-Kamenjew. Im Laufe der Fraktionskämpfe der zwanziger Jahre und – nach seiner Deportation in die Türkei im Frühjahr 1929 – im Exil der dreißiger Jahre entwickelte er sich zum bedeutendsten Analytiker der Degeneration der russischen Revolution, der Aufrichtung der Stalinschen Despotie und der konterrevolutionären Auswirkungen der sowjetischen Außenpolitik in China, Deutschland und Spanien.
In den Jahren 1928-1932, also in der Verbannung in Alma Ata (Kasachstan) und auf der Insel Prinkipo im Marmarameer, schrieb Trotzki seine bedeutendsten Bücher: die Autobiographie „Mein Leben“ und die zweibändige „Geschichte der russischen Revolution“ von 1917, mit der er bewies, daß er Geschichte nicht nur machen, sondern auch schreiben konnte. Gleichzeitig begleitete er den Niedergang der Weimarer Republik und den Aufstieg der Hitlerbewegung mit ständigen Kommentaren und an die Arbeiterorganisationen adressierten Aufrufen zur Bildung einer Arbeitereinheitsfront gegen den Faschismus. Trotzki war der einzige Soziologe der dreißiger Jahre, der Struktur und Funktion der beiden menschenfressenden totalitären Regime Hitlers und Stalins begriff und sowohl den nahen Ausbruch des zweiten Weltkriegs als auch die Ausrottung eines Großteils der europäischen Juden in naher Zukunft prognostizierte. In einzigartiger Weise wußte er seine Gesellschaftsdiagnosen mit praktischen Interventionsvorschlägen zu verbinden, also Gefahren zu antizipieren und politische Praktiken zu deren Abwendung zu erfinden.
Die Stalinisten haben aus Trotzki, der seit den frühen dreißiger Jahren zu einer politischen Revolution gegen die Stalin-Despotie aufrief, jahrzehntelang einen Popanz gemacht. Sie haben ihn selbst, die meisten seiner Familienangehörigen und viele Tausende seiner Anhänger in der Sowjetunion und in Spanien, in Frankreich und in Amerika (ja, sogar noch im Westdeutschland der fünfziger Jahre) verfolgt und ermordet. Erst Isaac Deutscher hat nach Stalins Tod mit seiner dreibändigen Biographie (1954-1962) den wirklichen Trotzki vom Schutt der stalinistischen Verleumdungskampagnen befreit. Der teilweisen Öffnung der sowjetischen Archive in den neunziger Jahren verdanken wir etliche, zuvor nicht bekannte Trotzki-Dokumente und eine Fülle von Einzelheiten über die anti-trotzkistischen Operationen der GPU in aller Welt.
Die alte europäische Arbeiterbewegung der Arbeiter-Massenparteien, der Trotzki, der revolutionäre Literat, angehörte, ist Vergangenheit. Bolschewiki, Trotzkisten und Anarchisten kamen historisch sozusagen „zu früh“. Ihre Versuche, der verhängnisvollen Entfaltung der kapitalistischen Weltwirtschaft ein Ende zu setzen, scheiterten. Es zeigte sich, daß die Mehrheit der internationalen Arbeiterschaft wohl an Reformen und an der Hebung ihres Lebensstandards interessiert war, aber doch zögerte, Fabriken, Banken und Staat zu erobern, um ihre Selbstbefreiung ins Werk zu setzen. Nahmen die Lohnarbeiter in einer günstigen Situation ihr Geschick einmal in die eigenen Hände – wie in der deutschen Novemberrevolution von 1918 oder 1936 im spanischen Aufstand gegen den Putschgeneral Franco –, dann wurde die revolutionäre Bewegung alsbald isoliert und durch konterrevolutionäre Truppen blutig niedergeschlagen. Der Preis, den die Menschheit für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Weltwirtschaft zahlt, sine permanente Kriege und Massaker in allen Weltteilen und die Verelendung eines Fünftels der Weltbevölkerung. Die Beseitigung privater Kontrolle über den Reichtum der Nationen, der sozialen Ungleichheit und des Staates ist ein Projekt, das viele Jahrzehnte, vielleicht gar Jahrhunderte in Anspruch nehmen wird. Die jetzt lebende Generation ist nicht nur der Erbe der überkommenen Institutionen, sondern auch der Erbe der gescheiterten Reformer und Revolutionäre der Vergangenheit. Sie muß aus deren Fehlern lernen und das alte Projekt der Befreiung von Ungleichheit und Herrschaft neu erfinden.