Buch: Lateinamerika im Aufbruch
Hermann Dworczak
Nach der hemmungslosen Woge des Neoliberalismus und den oft mit ihm verbundenen politischen Verwerfungen (man/ frau denke nur an Fujimori in Peru oder Color de Mello in Brasilien) hat ein Gegentrend eingesetzt: Generell gesprochen bewegt sich Lateinamerika nach links.
24.04.2007
Das von Herbert Berger und Leo Gabriel herausgegebene Buch
"Lateinamerika im Aufbruch" gibt einen fundierten Einblick, welche
tiefgehenden Wandlungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent in den
letzten Jahren Platz gegriffen haben.
Nach der hemmungslosen Woge des Neoliberalismus und den oft mit ihm
verbundenen politischen Verwerfungen (man/ frau denke nur an Fujimori
in Peru oder Color de Mello in Brasilien) hat ein Gegentrend
eingesetzt: Generell gesprochen bewegt sich Lateinamerika nach links.
Juao Pedro Stedile von der
brasilianischen Landlosenlosenbewegung MST charakterisiert diesen Trend
folgendermaßen : " Die Völker, die Volksbewegungen und vor allem die
politischen Kräfte, die diese Prozesse in unseren Ländern vorantrieben
und über sie eine gewisse Hegemonie ausübten, bevorzugten die Wahlen
als Schlachtfeld, um den Neoliberalismus zu besiegen... Das führte
dazu, dass bei fast allen Wahlen, die es seit 2002 gab, diejenigen
Kandidaten gewannen, die sich dem Neoliberalismus widersetzt hatten -
wenngleich sich einige von ihnen später als Neoliberale demaskierten,
wie das z.B. in Ecuador mit Lucio Gutierrez der Fall war" (Einleitung
S. 3).
Der allgemeine Trend verläuft also weder linear noch in den
verschiedenen Ländern ident , er nimmt vielmehr die unterschiedlichsten
Formen an. Die Spannweite reicht von Bachelet in Chile bis hin zu
Chavez in Venezuela und Chavez wieder kann nicht eins zu eins mit
Morales in Bolivien gleichgesetzt werden.
Das vorliegende Buch untersucht diese länderspezifischen
Unterschiedlichkeiten und die ihrer politischen ProtagonistInnen. Es
würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, auf alle behandelten Länder
bzw. die aufgeworfenen theoretischen und strategischen Fragen
(Solidarwirtschaft statt Markwirtschaft; pluriethnische Autonomien
versus Zentralstaat; partizipative und repräsentative Demokratie)
eingehen zu wollen. Stattdessen wird eine "exemplarische Methode"
(Oskar Negt ) gewählt. An Hand der Kapitel über Brasilien und Venezuela
wird dargelegt , wie weit eine Abkehr vom Neoliberalismus in der
Realität erfolgte.
Berhard Leubolt schildert
in dem Abschnitt "Ein sozialdemokratisches Projekt in der Ära des
Liberalismus?" die "Ambivalenzen der Regierung Lula ". Seit 2003
regiert Lula das Land, wobei "die PT von Stimmen konservativer Parteien
in Kongreß und Parlament abhängig ist " ( Brasilien-Kapitel S. 9 ). War
im Wahlprogramm noch davon die Rede, "die gute Erfahrung mit dem
Partizipativen Budget auf Gemeindedebene" auch auf die staatliche Ebene
auszudehnen, wurde "nach der Regierungsübernahme jedoch schnell klar,
dass es sich hierbei um ein leeres Versprechen gehandelt hatte" (S. 10).
Leubolt zeigt auf eine Reihe von (neoliberalen) "Kontinuitäten in der
Regierung Lula" ( S. 13ff. ): Hochzinspolitik, Priorität für die
Bedienung des Schuldendienstes, das Ausbleiben einer echten
Agrarreform. Als neue Elemente hingegen führt er an: alternative
Elemente in der Außenpolitik ( Wiedererstarkung des Mercosor; India
-Brazil-South Africa Dialogue Forum;...); trotz Fortsetzung der
"grundsätzlichen Orientierung der Regierung Cardoso " einige neue
Elemente in der Sozialpolitik (z.B . die Familienbeihilfe Bolsa
Familia); keine weiteren Privatisierungen (mit Ausnahme der
Pensionsreform ).
Leubolt versucht ausgewogen zu bilanzieren : einerseites " neue Würde "
für die Menschen, "andererseits weisen die individuelle
Konzeptualisierung der Sozialleistungen, sowie die makroökonomischen
Maßnahmen... eher in Richtung Sozialliberalismus " (S. 21 ).
Birgit Zehetmayrer gibt in dem
Kapitel "Die (latein-) amerikanische Herausforderung: Venezuela und die
Bolivarische Revolution" ein prägnantes Bild "vom Elend einer
zweigeteilten Gesellschaft".
Zurecht verweist sie auf die fundamentale politische Wende, die mit
dem "Caracazo" 198, dem Massaker der Regierung Perez eintrat. Sie
schildert den politischen Werdegang von Hugo Chavez und seiner
Bewegung, die Tätikeit der "misiones", die Verstaatlichungsmaßnahmen
bzw. das hilflose Agieren der bürgerlichen Opposition: " Von der
Polarisierung zum Putschversuch " (Venezuela-Kapitel S. 9 ) . Und
formuliert schließlich die "Gretchenfrage "( S. 13): "Inwiefern ist es
dem Hoffnungsträger ( Chavez- H.D.) aber tatsächlich gelungen, die
skandalöse Sozialstruktur, die er so feurig anklagte , durch seine
Bolivarische Revolution zu verändern?".
Meines Erachtens nach geht sie bei der Beantwortung der Frage zu "personalistisch" vor, obwohl sie selbst vor den Gefahren der
Personalisierung warnt ( S. 15 f.). Bei aller Berücksichtigung der
"charismatischen" Rolle von Chavez, sind die grundlegenden
Zukunftsfragen Venezuelas vor allem struktureller Natur: inwieweit
gelingt eine ökonomische Diversifizierung des Landes? Inwieweit
entwickeln sich selbständige, nicht " von oben " gegängelte
Volksorganisationen und Strukturen, die eigenverantwortlich und
selbstbestimmt Schritte in Richtung eines "Sozialismus des 21.
Jahrhunderts " unternehmen.
Alles in allem ein materialreiches, spannendes Buch, mit dem es sich auch kritisch auseinanderzusetzen lohnt.
Berger Herbert, Gabriel Leo (Hrsg.): Lateinamerika im Aufbruch. Soziale Bewegungen machen Politik. Wien, Mandelbaum Verlag 2007
280 Seiten. 17,80 Euro.