Buch: Die Enten der Apokalypse
Christoph Jünke
24.04.2007
Eine Epidemie jagt die andere, ein Lebensmittelskandal den anderen:
Wer sich in den letzten Jahren noch eine gewisse Resistenz gegen die um
sich greifende Katastrophenmüdigkeit bewahren konnte, der sollte zu
diesem Buch greifen.
Mike Davis‘ jüngstes Werk widmet sich der ausgesprochen aktuellen
Geschichte und Problematik der Vogelgrippe. Er entführt uns in die
Geschichte der großen Epidemien des zwanzigsten Jahrhunderts, zeigt
auf, wie und vor allem unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen
vermeintlich harmlose Grippewellen einen tödlichen Massencharakter
annehmen. Es ist eine Geschichte von Armut und Krieg, von Urbanisierung
und Slumbildung, von gestiegenem Fleischverbrauch und fallender
Biodiversität, die er hier skizziert. Und nun haben wir es mit der
„nächsten großen Pestilenz der Globalisierung“ zu tun, mit dem als
Vogelgrippe bekannt gewordenen H5N1-Virus, einer Influenzamutation,
„die sich in vom globalen Agrokapitalismus geschaffenen Nischen
ausgebildet hat und sich dort verschanzt“.
Wie bereits weiland Marx vor hundertfünfzig Jahren vorhersagte, rächt
sich die Natur für jede ihr vom Menschen angetane Schweinerei. In
diesem Falle handelt es sich um genetisch mutierte Grippenviren, die
sich im Kontext der
industriellen Revolution der Massentierhaltung und der in den letzten
beiden Jahrzehnten um sich greifenden Verstädterung der Dritten Welt,
v.a. im expansiv aufstrebenden Südchina, explosiv vermehrt haben. Von
Wildenten aufs Geflügel, u.a. die Hongkonger Krickente, übergesprungen
und via Zugvögeln und den neuen globalisierten Transportketten des
Agrarkapitalismus in alle Teile der Welt verstreut, sind die
aggressiven Viren – und das ist ein historisches Novum – nun auch auf
die Menschen übergesprungen und haben die ersten Menschenopfer
gefordert. Alle führenden Weltgesundheitsorganisationen sind sich
mittlerweile über die massive pandemische Bedrohung einig. So geht die
WHO von 100 Millionen möglichen Toten aus, die schlimmsten
Horrorszenarien gar von einer Milliarde.
Mit beeindruckendem Sachverstand auch in Fragen der Naturwissenschaft
geht Davis vor allem den gesellschaftlichen Bedingungen und Aspekten
dieser globalen Krankheitsökologie nach. Er zeigt die Verantwortung des
Menschen auf, verdeutlicht die unheilige Allianz von ökonomischen
Profitinteressen und politischer Korruption, und schreibt en passant
eine kleine Wissenschaftsgeschichte der Epidemieforschung. Doch die von
dieser bereits entwickelten Impfstoffe und Antibiotika versprechen eben
wenig Profit. Und so kommt es, dass auf der heutigen Titanic „viele der
Passagiere der ersten Klasse und sogar einige der Crew ertrinken
[werden], weil die Schifffahrtsgesellschaft aus Geiz an den
Sicherheitsvorkehrungen gespart hat, aber die armen Paddies im
Zwischendeck haben nicht einmal ein einziges Rettungsboot für sich und
sind ausnahmslos verdammt, im eisigen Wasser zu schwimmen“.
Selbst die New York Times spricht bereits von der „chronischen
Unvereinbarkeit von Bedürfnissen im öffentlichen Gesundheitswesen und
der privaten Kontrolle bei der Produktion von Impfstoffen und
Medikamenten“. Gesundheit ist, wie uns Gegner des herrschenden
Neoliberalismus und Freunde der Menschheit immer wieder eintrichtern,
eben keine Ware. Und, so Davis, „wenn die Nachfrage als Marktanreiz zur
billigen Herstellung dieser Arzneimittel nicht ausreicht, sollten die
Regierungen und Non-Profit-Organisationen die Verantwortung für
Herstellung und Verteilung übernehmen. Dem Überleben der Armen muss zu
jedem Zeitpunkt höhere Priorität eingeräumt werden als den Profiten der
großen Pharmakonzerne. Ebenso ist die Schaffung einer wirklich globalen
Infrastruktur der öffentlichen Gesundheitsversorgung im wahrsten Sinne
des Wortes zu einem Projekt auf Leben und Tod sowohl für die reichen
wie für die armen Länder geworden. Der erste Schritt dahin … ist ein
ernsthaftes Hilfsprogramm, um die Kampagne zur Pandemiekontrolle in
Vietnam und Südostasien zu retten.“
Mike Davis: Vogelgrippe. Zur gesellschaft
lichen Produktion von Epidemien,
Berlin: Assoziation A, 2005,
170 Seiten, ca. 15 Euro