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… und nicht wissen, wohin

Kurt Hofmann

Zum Filmfestival „Crossing Europe“/2012 in Linz

03.05.2012

Auch die neunte Ausgabe von “Crossing Europe”  bestach durch ihre wohlbekannte, doch nach wie vor intakte Programmstruktur: im Wettbewerb wie  in der Panorama_Sektion junges, engagiertes Kino aus  Europa, ein Gegenentwurf zum omnipräsenten, stets ausrechenbaren “Euro-Film”. Oder die „Arbeitswelten“-Leiste, die ein Europa abseits der Besorgnis um die Banken  sichtbar macht  (wer  die griechischen AltmetallsammlerInnen in  „Raw  Material“ gesehen hat, lernt  die  Wut über die dem land zugeschriebenen Klischees verstehen), und nicht zuletzt Maekus Keuschniggs  Genre-Mix  „Nachtsicht“, ein ebenso innovativer wie unverzichtbarer  Grenzgang abseits des Vorgesehenen.

In  all dem  wird  die Handschrift der Intendantin Christine Dollhofer sichtbar -  mit mehr  Berechtigung als  bei vergleichbaren Festivals  ist „Crossing Europe“ als unverwechselbar zu bezeichnen.

Anders,  35,  kehrt vom Land, wo er einen Drogenentzug absolviert, in die Stadt, nach Oslo, zurück. Er soll ein  erfolgreiches Interview bestreiten  (anders kann man  es  nicht nennen, denn er  muß  sich durchsetzen,  der dauerhaft angeklagte  Süchtige  mit Gefängniserfahrung, gegen den „Entscheider“ über  seine Chance, seinen potentiellen Feind allemal). Aber Anders ist auch nach Oslo gekommen, um die wiederzutreffen, die ihm  einst vertraut  waren.

Hier setzt Joachim Triers „Oslo, August 31st“(Norwegen 2011) eine  Zäsur: das realistische Drama um einen, der seinen Weg  zurück finden will,  wird – gewissermaßen – zum Science-Fiction-Film, verwendet  jedenfalls als Erzählmethode dessen Topoi. Denn so wie die „FreundInnen“ von früher  Anders als Alien erleben, gekommen aus einer  anderen Welt,  nur äußerlich wieder erkennbar, fühlt sich auch Anders  in ein Paralleluniversum versetzt. Wohnungen, Gesichter,  Bewegungen, Gesten: scheinbar ist alles noch vorhanden, doch alles ist ihm fremd. Nur eines ist unverändert und identifizierbar geblieben: die unversöhnliche Haltung seiner Exfreundin, die nicht einmal am  Telefon  mit ihm reden will und zum erbetenen Gespräch eine „Botin“ schickt. Doch deren Sprache versteht Anders ebenso wenig  wie jene der freundlich-besorgt-abweisenden Mitglieder seiner ehemaligen Clique. Er  hingegen  kann und will sich nicht erklären, ist zum Analphabeten  des Lebens geworden.

Alles Glück dieser  Erde auf dem Rücken der  Pferde?  Die fünfzehnjährige Emma will Teil einer Voltigiergruppe  werden. Das  Talent  dazu hat sie, doch muss sie erst das  Vertrauen  von  Cassandra, der Anführerin des Mädchenteams, erringen. Zwischen ihr und der zwei Jahre älteren Kunstreiterin entsteht langsam eine Freundschaft, später eine enge Bindung. Cassandra ersucht Emma im  Namen  ihrer neuen Verbundenheit,  nicht mit ihr zu konkurrieren., ein Versprechen, das diese ihr widerwillig gibt. Als sich herausstellt, dass Cassandra von Emma  mehr will als nur  Freundschaft, distanziert  sich diese von  ihr. Nur als Ersatzkandidatin nominiert,  fühlt sich Emma schließlich nicht mehr  an  ihr Versprechen, den zuvor gelobten  Freundschaftspakt, gebunden…

„Appflickorna“ (She Monkeys; Schweden 2011; Regie Lisa Aschan;  Wettbewerb) ist mehr als ein Coming-Of-Age-Film.  Liebe oder Erfolg? Wie sich entscheiden in Zeiten der Leistungsgesellschaft? Emmas wütende Reaktion auf Cassandras Avancen gilt  in  Wahrheit nicht  dieser,  sondern ihrer  eigenen Unsicherheit, dem Schwanken ihrer Gefühle. Die Beziehung zwischen Emma und Cassandra erweist sich als Vexierspiel der  Emotionen.  Sich nur ja keine Blöße geben:  wer sich offenbart, „die Karten aufdeckt“, hat schon  verloren. Die  richtige  Option ziehen,  ohne Rücksicht auf  Verluste: da  ist die kleine  Welt, in der die große ihre Probe  hält.

Vor zehn Jahren ist die dreizehnjährige Maria mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester in die Schweiz gezogen. Nun  kehrt  die Familie in  den tiefkatholischen italienischen Süden zurück.  Marias  Firmung steht an. Das  introvertierte Mädchen  wird  zu Gemeinschaftsritualen genötigt.  Sweet Jesus: Wie sich lächelt, die ältliche Betreuerin, als sie von der kommenden  Weihe spricht.  Und  hält sich noch für  modern, weil sie mit den Jugendlichen  Lieder  auf der Gitarre einübt.  Maria ist angewidert,  fühlt sich nach ihrer  Rückkehr um Jahre  zurückgeworfen. Weg  will sie, ohne zu wissen, wohin.  Welche Fluchtmöglichkeit hat man  aber auch schon als Dreizehnjährige in einer  so unwirtlichen wie unvertrauten Gegend weitab der  „Zivilisation“, des vertrauten Städtischen? Maria versucht dennoch, zu türmen, wird unterwegs ausgerechnet vom  örtlichen  Pfarrer aufgegriffen. Auf dem Rückweg  ein  Unfall; das  große Holzkreuz, das der  Pfarrer anlässlich der Firmung seiner Gemeinde mitbringen  soll,  fällt  ins  Wasser -  ein Zeichen?

Alice Rohrwachers  „Corpo Celeste“ (Italien/Schweiz/Frankreich 2011; Wettbewerb) wirkt wie ein Kommentar zur Fundamentalismus-Debatte.  Hier der aufgeklärte  Westen, da der  rückständige Süden,  die ehemalige „Dritte  Welt“.,  heißt  es. Doch es genügt,  den Süden Italiens  zu besuchen, um auf unbeirrbare Religionsfanatiker zu stoßen. Gewiß, hier  wird  keine/r eingesperrt  oder gar gesteinigt, wenn er/sie vom rechten Glauben  abweicht. Aber Dissidenz ist dennoch nicht erwünscht, zumal von Unmündigen, denen ja erst  beigebracht werden muss, wo Gott  wohnt. Alles hat  seine  Ordnung im Gebirgsdorf im  Süden, die Kirche ist omnipräsent und gibt vor,  wie der  Alltag  einzurichten ist. Wehe den Abweichenden – sie werden „mit  Liebe“ auf den  rechten Weg zurückgebracht…

Und weil wir beim Weltbild sind:  wie verhält es sich denn  mit Griechenland,  wo „unser  Geld“ hinsoll?

Aus dem Off eine Kinderstimme,  von  dem Geld, dass  er Tag für  Tag verdiene, werde  er  sich schon  bald  einen  Ferrari  kaufen,  sagt ein Junge.  Wieviel denn ein Ferrari koste,  fragt der Interviewer. Das  wisse er  nicht,  sagt der Dreikäsehoch, der  dem Vater beim Sammeln von Altmetall hilft. Dessen Erzeuger  hat auch einen Traum: wenn er nicht nachts mit dem  Sohn  auf Beutejagd  gehen  müsste und das Depot  durchsuchen könnte, so,  wie er wollte, würde  er, tief am Grund, wohl auch Gold finden… Illusionen: Die da suchen,  sind  ganz unten  angelangt. Hoffnung auf einen Arbeitsplatz gibt es längst nicht  mehr. Die einen  sind, wie im einleitenden Beispiel, kleinfamiliär unterwegs und haben wenigstens noch ein dach über  dem Kopf.  Die anderen, meist MigrantInnen haben sich in zelten am Rand der stadt organisiert. Auch sie  suchen nach Verwertbaren und Weiterverkaufbaren aller Art, von der Hand in den Mund  leben  sie dennoch. Interesse an diesen Randexistenzen hat keine/r. Ja, die GriechInnen, die von „unserem Geld“ leben. In  Christos Karakepelis Doku „Proti Yli“ (Raw  Material; Griechenland 2011; Arbeitswelten) bleibt kein Stein bei dieser verlogenen Argumentation auf dem  anderen. Mitleid mit den  Ausgegrenzten ist da zu wenig, Erkenntnis wäre besser. Wer stets nur „Staatsbankrott“ und „Verschwendung“  schreit, sollte sein/ihr Vokabular zumindest um ein Wort erweitern. Es heißt  „Klassenverhältnisse“, und wer dann immer noch an Europa denkt, ist auf der  richtigen Spur…

Es beginnt im Kaufhaus,  einem  Sinnbild schwedischen Wohlstands: reich ist dort die  Auswahl, und nur wenig von dem  Angebotenen könnte sich die  kleine, verschworene Gruppe 12-14jähriger aus migrantischen Verhältnissen  leisten. Wohl aber ihr Pendant aus  der  schwedischen Oberschicht, die über zu kaufendes aus dem elektrischen Bereich diskutieren. Genau die wollen die „Ghettokids“ abzocken und  beginnen ein b ösartiges  Spiel mit  den  Gleichaltrigen… Zu gleicher Zeit  in einem  internationalen Zug: eine leere Wiege steht in einem  Fluchtweg: Mehrfach  fordert  der Zugführer durch die Mikrophonanlage zur Entfernung dieser ungewünschten Barriere auf. Niemand meldet sich, aber nichts scheint dem Bordpersonal wichtiger als diese  Bagatelle. Schließlich legen die ZugbegleiterInnen Hand an: die Wiege  wird bei einem  Halt aus dem  Zug entfernt und auf  dem Bahnsteig abgestellt. Schon wieder falsch: Denn  nun wird eine  Rechtslücke offenbar. Die Durchsage hätte auch in Englisch erfolgen  müssen. Was, wenn da eine/r klagt? Also wird die Wiege wieder eingeladen…

Mittlerweile ist das böse Kinder-Spiel weiter  gediehen: die reichen Kids versagen ob der praktischen Intelligenz und der raffinierten Psycho-Tricks ihrer Widersacher. Von diesen durch die halbe Stadt getrieben, werden sie in einem  nahen Wald buchstäblich um die letzte Hose (eine Markenjeans) gebracht. Nd  auch das Teuerste, was  die Jungs aus dem nobelgymnasium bei sich tragen, nehmen  sie diesen ab  - das  Musikinstrument eines Hochbegabten…

Soso, Jugendkriminalität aus der Unterschicht,  noch dazu durch einen „realen Fall“  belegt: Eben jetzt hat Ruben  Östlund mit  seinem in Cannes uraufgeführten und mittlerweile (zu Recht) mehrfach ausgezeichneten Film „Play“ (Schweiz/Frankreich/Dänemark 2011; Panorama) die ZuschauerInnen ebenso ausgetrickst wie die „Ghettokids“  ihre gleichaltrigen Kollegen aus der Oberschicht. Denn  als die ach so  liberalen, begüterten Väter von den  Diebstählen erfahren und eines „Täterkindes“ habhaft werden, geben  sie faschistoide  Parolen von  sich und lassen beinahe alle Hemmungen  (und Masken) fallen… Und wir sehen, als genialen Schlusspunkt das  Schulkonzert des beraubten Kindes. Alles ist wieder da: Ein neues, wieder mehrere  Tausend Euro teures Musikinstrument, eine  neue, ebenso teure Markenjeans… Alles nachgekauft, kein  Mirakel. Als  Problem wird erst betrachtet, wenn  das  Oben und Unten schon von  den Kleinen durcheinandergebracht wird, die doch  lernen sollten,  dass  sie sich nicht alles leisten (werden) können, oder  auch, wenn  eine unvorschriftsgemäß abgestellte  Wiege den Regulierungswahn weckt – solche Sorgen möchten die auf  der „anderen Seite“ des  vielgelobten Wohlfahrtsstaates Lebenden  gerne hören…

Alles wird besser, bloß das Produkt Mensch,  das Humankapital, hinkt hinterher. Die Fehleranfälligkeit dieser Produktgruppe ist besonders hoch,  das Ziel muss  dennoch Optimierung sein, so erfährt man es in der  Doku  „Work hard,  Play  hard“(D 2011; Regie: Carmen  Losmann; Arbeitswelten), dem herausragenden Film des diesjährigen „Crossing Europe“.

Ein großer  Konzern baut eine  neue Zentrale. Was muss  der Architekt unbedingt  mitplanen? Den „meeting  point“ für die MitarbeiterInnen. Dort  können sie sich sammeln, wenn sie einander etwas zu sagen haben, denn  das läßt sich leider nicht vermeiden.  Reden  also ja, aber zur rechten Zeit und stets  kontrollierbar, daher der meeting  point, in anderen Betrieben auch gut deutsch Kaffeeecke genannt. Da kann es menscheln, das Humankapital. Aber die Zufriedenheit: da hakt es. Ist die Firma nicht mit dem Produkt  Mensch zufrieden, steht das ganze  werk (das Werk,  hier selbstredend auch in  der pathetischen Bedeutung dieses Begriffes verstanden). Die Bearbeitung dieser  Produktgruppe läuft über Kommunikation, der  begriff Zufriedenheit muss  aber notwendigerweise in  Übereinstimmung umdefiniert  werden. Auch Führungskräfte sind da zu führen, man trifft sich – outdoor – ganz zwanglos  zu lustigen Aktivitäten die Risiko beinhalten und  Geschicklichkeit  erfordern, alle sind  dabei Teil des Ganzen und jede/r wird bewertet, aber  wo wird  man das  denn nicht. Gemeinsam sind wir stark, besonders wenn wir (gemeint ist hier das Humankapital) in  einem  eigens  dafür eingerichteten  Tunnel eine Situation der  Eingeschlossenheit simulieren und durch besonderen Einsatz unserer Kreativität Gegenstände, als Hauptgegenstand aber den Ausgang finden müssen. Dies  alles wird mit Kameras überwacht und analysiert, denn Analyse ist wichtig, wie auch die Bewerbungsperformance – indoor – zeigt.

Wie tickt der/die Bewerberin? Lacht er/sie auffällig,  kann er/sie die ihm/ihr unterstellten MitarbeiterInnen auch (zu mehr Einsatz) motivieren, redet  er/sie zuviel oder zu wenig?  Funktioniert ein Rädchen nicht,  stockt die ganze Maschine. Flexibilität, Mobilität,  Einsatz aller Kräfte, jederzeit  und an  jedem Ort, vor allem aber:  Identifikation mit dem großen Ganzen -  das sind Schlüsselworte, die weiterhelfen. Bitte möglichst keine persönlichen Gegenstände zum  Arbeitsplatz  mitnehmen. Alles,  was an „daheim“ erinnert,  stört das neue, gemeinsame Zuhause. Teamfähigkeit ist wichtig,  aber wie im Sport,  jedes Team braucht einen Trainer, der  sagt, wo  es langgeht.  Wir,  das  Team, wollen gewinnen. Immer wieder  muss  das  Team,  um weiterhin zu siegen, erneuert und Kräfte freigesetzt werden. Flexibilität, Mobilität…

Schöne neue  Arbeitswelt: Einander  etwas sagen zu wollen, das erfordert  eine codierte Sprache. Anglizismen sind dabei immer gut, das  signalisiert Weltläufigkeit,  denn die konsequente Übersetzung ins Deutsche würde nur für schlechte Stimmung sorgen. Bloß nicht die Dinge  beim Namen nennen. Bloß kein Atemholen oder gar  Innehalten.  Immer neue Projektziele ausgeben, ist ein Achttausender bezwungen, seilen wir  uns schon für den nächsten an…  Bisweilen ist freilich all die schöne Motivation  vergebens: Wenn etwa die Deutsche Post einen Trainer losschickt, der  da keine begeisterten MitarbeiterInnen antrifft, sondern von Arbeitsdruck erfährt. Wie man das denn  ändern könne, fragt er scheinheilig.  Durch mehr MitarbeiterInnen wird ihm geantwortet. Da ist er schmähstad, der Trainer. Ein  Moment  der Hoffnung in der  schönen  neuen Arbeitswelt.

Noch lassen sich nicht alle am  Nasenring vorführen wie der berühmte Tanzbär, aber,  man  arbeitet an der  Optimierung -  das  verdeutlicht „Work hard – Play hard“ von Carmen Losmann – ein  Film  der  Stunde.