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Reden hilft nicht immer

Kurt Hofmann

Berlinale 2017: Forum, Panorama, Perspektive Deutsches Kino

22.02.2017

Ob man durch Reden versucht, festzustellen, wo man momentan ist und mit wem man sich eben unterhalten hat mitten in einer auf den Kopf gestellten Welt (Tiere), wie man sich verhält in einer auf Schweigen gegründeten Umgebung (God's Own Country), weshalb man stets auf den Subtext achten sollte (Golden Exits), inwiefern das Reden und szenische Verarbeiten von einst Durchlittenem den Opfern weiterhilft (Ghost Hunting), wann zwei, die zusammen bleiben, weil sie es nicht anders kennen, das benennen sollten oder zumindest auseinandergehen (Werewolf), warum man nicht nur Taten sprechen lassen sollte, sondern diese auch irgendwann reflektieren (Tiger Girl) und wohin es führt, wenn einer den Mund zu voll nimmt (Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes): die nachstehend besprochenen Filme der Sektionen „außerhalb“ des Wettbewerbes versuchten auf vielfältige und unterschiedliche Weise der Sinnhaftigkeit zwischenmenschlicher Kommunikation auf die Spur zu kommen...

Deja-vu: Anna (Birgit Minichmayr) stockt, als sie, eben mit ihrem Freund Nick (Philip Hochmair) in der Schweiz angekommen, der Verkäuferin in einer Bäckerei ansichtig wird. Das ist doch... und schon hat sie diese „Erscheinung“ als eine Mieterin ihres Wohnhauses in Wien identifiziert, welche sie verdächtigt, mit Nick ein Verhältnis zu haben... „Eigentlich“ hat sich die so Beschuldigte schon kurz nach der Abreise von Nick und Anna durch einen Sprung aus ihrem Fenster in den Tod gestürzt... Als deren Exfreund (Michael Ostrowski) bei Nicks Tür Sturm läutet, weil er von deren Ableben nichts weiß und sie ebendort, bei Nick, vermutet, öffnet ihm eine Freundin von Anna, die sich während deren Abwesenheit um die Wohnung kümmert. Und siehe da: er erblickt seine Liebste (die eben noch blutend am Trottoir lag...) und lässt sich durch keinerlei Beteuerung der Wohnungshüterin, sie wäre nicht die, die er meine, davon abbringen... Anna ist Kinderbuchautorin und will in der Einsamkeit der Schweizer Berge ihr erstes „Erwachsenenbuch“, einen Roman, schreiben. Nick ist Sternekoch und auf der Suche nach seltenen Rezepten in der Schweiz. Beider Aktivitäten werden durch Annas stetige Eifersucht gebremst... Überall vermutet sie Rivalinnen und ein sprechender Kater, mit dem sie sich in Nicks Abwesenheit unterhält, bestärkt sie noch in diesen Vermutungen... Freilich, Anna hatte einen Unfall, als ein Schaf plötzlich und unerwartet auf der Straße auftauchte, und Nick nicht mehr imstande war, zeitgerecht zu bremsen... Nicks Schuld an "ungeheuerlichen Vorgängen" im Schweizer "Exil" scheint Anna erwiesen (zumal auch der sprechende Kater zustimmt...), andrerseits wendet sich, immer dann, wenn sie Nick ertappt zu haben vermeint, das Blatt... Liegt sie gar noch im Krankenhaus und phantasiert? Oder sind etwa all die seltsamen Episoden Kapitel aus ihrem neuen Buch?

„Tiere“ (Schweiz/Österreich/Polen 2017; Regie: Greg Zglinski, Forum) ist eine surreale Komödie, entstanden nach einem Drehbuch aus dem Nachlass von Jörg Kalt. Fragen der Wahrnehmung, der Wahr-nehmung: wie wirklich ist die Wirklichkeit? Welche Streiche kann einem das eigene Oberstübchen spielen? Oder lügen alle, ist alles, was die anderen sagen, unter „Fake News“ zu verbuchen? In „Tiere“ werden die Hauptfiguren von „Erscheinungen“ geplagt – Wahnwitz oder (verdrängte) Einsichten? Zglinski lässt dies in seiner (hoch besetzten) Komödie der Irrungen offen, welche die Gagmaschinerie mit einem Sammelsurium von Einfällen auf Trab hält.

Johnny ist ein Farmerjunge aus Yorkshire. Er hat auf dem Hof klar definierte Aufgaben, die sein Vater vorgibt. Der erklärt ihm, was zu tun und was zu lassen ist, Widerspruch ist nicht vorgesehen. Ob ihn sein Vater liebt? Er braucht ihn (ohne das jemals einzugestehen), nutzt seine Arbeitskraft, um das zu erhalten, was der Familie seit Generationen eigen. Der Dialog zwischen den beiden beschränkt sich auf das Notwendigste. Johnny ist schwul – darüber wird daheim nicht gesprochen, auch wenn es der gleichermaßen schweigsamen Großmutter nicht unbekannt zu sein scheint... Abends, im Pub, kennt man seine Wünsche. Schneller, bedeutungsloser Sex mit wechselnden Partnern, dann wieder „heim“ für einen kurzen Schlaf und frühmorgens wieder zur Fron: das ist Johnnys Alltag. Bis Gheorge eintrifft, vom Vater als Aushilfe für die Saison engagiert. Ein rumänischer Farmerjunge, der alles besser weiß und vom Vater offenbar als zweiter Sohn betrachtet wird. Johnny Wut auf Gheorge, gemischt mit Provokationen, ist zugleich auch ein Anschreien gegen das Nichteingestehen des eigenen Begehrens. Aber wenn sich etwas ändern soll, muss Johnny einmal auf jemanden zugehen... Ein Schlaganfall des Vaters hält Johnny am Hof. Als der Alte vom Krankenhaus zurückkehrt, sind Johnny und er zum ersten Mal so etwas wie Vater und Sohn. Einmal mit dem Erzeuger versöhnt, steht noch eine Aussprache mit Gheorge an, den Johnny im Streit vertrieben hat...

„God's Own Country“ (GB 2017; Regie Francis Lee; Panorama) erzählt von einem „Verstockten“. So sehr Johnnys Mimik und Körpersprache den Widerwillen gegen sein „vorgezeichnetes“ Leben widerspiegeln, so wenig ist er imstande, sich von seiner stumpfen Umwelt zu lösen. Erst die Begegnung mit Gheorge, dem „Fremden“ aus Rumänien, in den er sich verliebt, lässt ihn erkennen, dass es keine wichtigere „Verpflichtung“ gibt als jene gegen sich selbst... Frances Lee, der in „God's Own Country“ sensibel und genau die langsame Ablösung Johnnys aus dem verhassten Alltag schildert, vorzeigend, wie viele kleine Schritte erst einen größeren möglich machen, lässt auch keinen Zweifel daran, dass die ökonomischen Verhältnisse, der tägliche Überlebenskampf der „Einschichtbauern“ letztlich die Macht und Herrlichkeit der alles in der Familie diktierenden Patriarchen zum Einsturz bringen werden...

New York: Nick, ein Mittvierziger, katalogisiert den Nachlass des Vaters seiner Freundin Alyssa. Deren Schwester Gwen, die ihn für einen Versager und Tunichtgut hält, hat ihn damit beauftragt, sozusagen aus Familienraison. Allerdings scheinen die sich türmenden Papierberge nicht kleiner zu werden. So wird eine Assistentin für Nick engagiert - Naomi, Anfang 20, aus dem fernen Australien kommend. Nick braucht eine Assistentin, aber Gwen spekuliert, wie weit Nick den Begriff der Assistenz fassen wird. Alyssa steht über den Dingen und würde sich eher die Zunge abbeißen, als von ihrer Eifersucht zu sprechen... Nick weiß all das und agiert vorsichtig, bis ihm der Alkohol eines Abends die Zunge löst. Es ist sein Geburtstag und damit eine gute Entschuldigung, tags darauf wieder in die gewohnte Routine zu verfallen... Allein, Naomis Interesse an Nick hält sich ohnedies in Grenzen. Der Job und ihr Alltag in New York langweilen sie. In New York kennt sie außerhalb ihres Jobs nur Buddy, den Leiter eines Aufnahmestudios, welchen sie allerdings seit Kindertagen nicht gesehen hat. Dessen Frau Jess besitzt das Studio, sie gibt diesem die Gelegenheit, seinen Traum zu verwirklichen. Buddy, Mitte Dreißig, ist die (vorgetäuschte) Lässigkeit in Person und bildet mit Jess ein so aufgesetzt vorgetragenes Modell des perfect couple, dass Naomis Auftauchen ihn ebenso nervös macht wie Nick...

„Golden Exits“ (USA 2017; Regie Alex Ross Perry; Forum) ist eine urbane Komödie über das „was wäre wenn“... Nichts von dem, was die Frauen um Nick und Buddy, die deren Existenz finanzieren, aus dem plötzlichen Auftauchen einer jungen, attraktiven Frau schließen, passiert, es bleibt auch bei Andeutungen, Spekulationen im Subtext, alles andere wäre nicht cool... Naomi ahnt nicht, wie sehr sie die Phantasien aller Beteiligten beflügelt. Sie findet New York boring und entwickelt eigene Pläne, diesen Zustand zu ändern... Die Komik in „Golden Exits“ entwickelt sich entlang des entschiedenen Bemühens der coolen New YorkerInnen, angesichts des „unberechenbaren Eindringlings“ Naomi ja nicht die Fassung zu verlieren, was immer auch passieren könnte...

Zuerst die Zeitungsanzeige: Raed Andoni, Regisseur sucht für ein Filmprojekt ehemalige (palästinensische) Insassen des berüchtigten Moskobiya-Verhörzentrums in Jerusalem, die möglichst auch über Erfahrung als Handwerker, Architekten oder Schauspieler verfügen. Danach ein Casting, in dem die Vorgeladenen erkennen, dass es bei Andonis Film um sie, um ihre traumatischen Erfahrungen in Moskobiya geht. Dann die Dreharbeiten: Es gibt ein Drehbuch und es gibt auch ausreichend Platz für Improvisation, aber dieser Filter verhindert nicht, dass in den sorgsam nachgebauten Räumen quälende Erinnerungen das Spiel so sehr überlagern, dass sie für die Darsteller schwer erträglich werden, selbst dann, wenn der Schauspieler in der Szene einen „ Rollenwechsel“ vom Opfer zum Täter (zum Verhörenden) vollzogen hat.

„Istiyad Asbah“ (Ghost Hunting; Frankreich/Palästina/Schweiz/Katar 2017; Regie: Raed Andoni; Panorama) ist eine an Boals „Theater der Unterdrückten“ angelehnte Doku-Fiction. Reflexion zur Traumabewältigung: die meisten am Projekt Beteiligten sind geblieben, weil es trotz aller nun wieder aufgerissenen Wunden für sie eine Gelegenheit war, die Gespenster der Vergangenheit zu (ver-)jagen. „Ghost Hunting“ war für Sie ein Gegenentwurf zum Schweigen, auch für Raed Andoni, selbst einst Gefangener in Moskobiya...

Nessa und Blaise sind auf Entzug. Schon die behördlichen Vorgaben das Methadonprogramm einzuhalten, ist für die beiden anstrengend genug. Aber: sie brauchen auch Geld für ihre Wohnwagenexistenz mit niedrigem Anspruch. Ein schrottreifer Rasenmäher wird „organisiert“. Doch nicht jeder will sein Stück Grünfläche von den selbsternannten Gartenarchitekten pflegen lassen, insbesondere, wenn Blaise sich als Agitator der Erniedrigten und Beleidigten versucht... Einer bietet Blaise zwanzig Dollar an, wenn er sein Grundstück verlässt, bei anderen kommt es nicht einmal so weit... Der Wunsch, der Provinzöde und den ewig gleichen Ritualen einer längst gescheiterten Beziehung zu entfliehen, ist da, jedenfalls bei Nessa, die widerspricht, wenn andere Blaise einen hoffnungslosen Fall nennen. Vom Fleck kommen: das wäre Nessas Ziel. Spätestens, als Blaise ihre Ration Methadon klaut und mit einer Überdosis ins Spital eingeliefert wird, beginnt Nessa zu zweifeln... „Werewolf“ (USA 2016; Regie Ashley McKenzie; Forum) spürt den Verbindungslinien zwischen Stillstand und Selbstbetrug von zweien, die nicht mit, aber auch nicht ohne den anderen weiterkommen, mit den Mitteln des US-Independentfilmes nach, ruhig, beobachtend, mit einem Bekenntnis zur langen Weile.

Maggie hat die Polizeiausbildung nicht geschafft, unter anderem, weil sie sich, zum Gaudium der anderen Auszubildenden, bei einer einfachen Turnübung blamiert. Jetzt hat sie bei einer Sicherheitsfirma angeheuert, doch auch dort muss sie es erst schaffen, zu den „Auserwählten“ zu gehören. Als sie nach dem Security-Training von einem Expolizeikollegen „angegraben“ wird, der sich nicht abschütteln lässt, hilft ihr eine martialisch wirkende Unbekannte mit einem simplen Überrumpelungsmanöver. Später, als Maggie am U-Bahn-Perron von drei Jungs bedrängt wird., taucht jene abermals, wie aus dem Nichts kommend, auf, und hat passenderweise einen Baseballschläger mit dabei. Es ist Tiger, eine Art Wonder-Woman, welche die unsichere und angepasste Maggie ummodelt und sie lehrt, im Großstadtdschungel zu bestehen. Manchmal zocken die beiden unter Tigers Anleitung arrogante Schnösel ab, dann wieder beschafft Maggie der neuen Freundin eine Uniform der Security-Firma, mittels derer diese - als "Amtsperson" - gemeinsam mit Maggie allerhand Schabernack treibt... Die beiden leben im Hier und Jetzt, agierend, improvisierend, furchtlos... Bis Maggie etwas missversteht und einem Kult der Gewalt zu huldigen beginnt... „Tiger Girl“ (D 2017; Jakob Lass; Panorama) vermittelt Lebensgefühl, besticht mit seinem Rhythmus und seiner präzisen Choreographie. So schnell und ansatzlos wie die Kampfmoves von „Tiger“ agiert auch der Film von Jakob Lass, welcher nach seinem vielbeachteten Vorgängerfilm „Love Steaks“ mit „Tiger Girl“ nun auf Überrumpelung setzt – das wirkt bisweilen redundant, jedenfalls stimmt das Tempo in diesem filmischen Comicstrip und auf das kommt es in einer urbanen Superheldinnen-Geschichte ja an. Mit der Ablösung von Klischees bei der Kreierung des "Tiger Girl" (stark: Ella Rumpf) entgeht Lass allerdings nicht der Falle, neue Klischees zu schaffen...

Julian ist ein – allerdings noch unentdecktes – Genie. Da leider auch sein jüngstes Filmprojekt von allen Förderstellen abgelehnt wird, muss er sich an das Arbeitsamt wenden, das ihm einen Job als Erntehelfer auf einer Apfelplantage vermittelt. Camille, die er auf der Uni kennengelernt hat und heimlich verehrt, erzählt er, er mache sich aus Studienzwecken zwecks Vorbereitung seines neuen Films über Ausbeutung und die mögliche Erhebung der Verdammten dieser Erde auf den Weg zur Plantage. Ein Hohelied des "Kommunismus" solle sein Film werden und sie, Camille, werde darin die Hauptrolle spielen. Wider seine Erwartung folgt ihm Camille, deren Interesse er – zumindest für sein Projekt – geweckt hat. Doch Julian ist ein Maulheld und bald mit seinem Revolutions-Latein am Ende. Aber Hong und Sancho, ein seltsames Pflückerpaar, welches sich im seitenverkehrten Paradies wähnt, das folgerichtig das Tor zum wahren, sozialistischen Paradies sei, unterstützen die zu allem entschlossene Camille, ebenso wie ein gleichermaßen stummer wie vielsagender Mönch (eine Referenz an Rossellinis Franziskus...), dem die Vöglein vom nahenden Ende des Kapitalismus und dem Beginn revolutionärer Zeiten in Italien ins Ohr gezwitschert haben - leider lügen die Vöglein...

Julian Radlmaiers „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ (D 2017; Perspektive Deutsches Kino), ein Solitär im Festival-Allerlei, war mit Abstand die innovativste Arbeit des aktuellen  Berlinale-Jahrgangs. Nichts findet sich "einfach so" in diesem Film, von der facettenreichen (so ironischen wie empathischen) Zeichnung des "kollektiven Begehrens" (Radlmaier) der Revolutionsromantiker über die eine oder andere Hommage an große Regisseure (Rossellini, Renoir...) und deren Filme bis hin zur Besetzung (nicht zufällig ist Johanna Orsini-Rosenberg, bei Radlmaier die Plantagenleiterin Elfriede Gottfried, eine Protagonistin Daniel Hoesls im "verwandten" Film "Win Win", mit von der Partie).  

Wie sich da einer über den real existierenden Kapitalismus ebenso lustig macht wie über die mit revolutionärem Impetus an den Mühen der Ebene Scheiternden (denen dennoch seine Sympathie gehört), das bereitet, frei nach Brecht, „Vergnügen am Denken“....