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Diagonale 2009: Von Rollenspielen und Feuerwerken

Kurt Hofmann

Die Diagonale 2009, erstmals unter der Leitung von Barbara Pichler. Gelassenheit, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Keine Mottos, keine Aufgeregtheiten. Eine Änderung an einer „Nebenfront“: Wie die Podien bei den Diskussionen im Kunsthaus kleiner geworden sind und der Erkenntnisgewinn (bisweilen) größer geworden ist. Wie durch „Hoch und Nieder“-Themen den präziser gefassten, reflektierenderen Themenstellungen gewichen sind: Von der Breite in die Tiefe.

09.04.2009

London, in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts: Ein neuer Gast zieht in die Pension Belle Vue ein, elegant, im grauen Flanell, ein (Durch-)Reisender. Eigentlich ist man „komplett“, eine Gesellschaft von (auf unterschiedliche Weise) Gescheiterten, die einander neiden, was sie nicht haben. Aber der Zuzügling hat sich nicht abweisen lassen, er ist, nicht nur in dieser Frage, wie sich herausstellt, von einer beharrlichen Höflichkeit. Die Offizierstochter Vivian soll von ihrem Vater an den Baumeister Wright, einen, der für Geld über Leichen geht, verkuppelt werden, der wiederum ihren Liebsten, einen jungen, mittellosen Architekten, kaufen will, um ihn (moralisch) zu korrumpieren. Der Reisende hilft dem Paar, das getrennt werden soll, stellt sich Mr. Wright ebenso entgegen wie jenen, die das Dienstmädchen Stasia als letzte in der häuslichen Hackordnung nur als Ausreibfetzen und nicht als menschliches Wesen behandeln…

„The Passing of the Third Floor Back“, entstanden 1935, inszeniert vom großen Theatermann Berthold Viertel, geschrieben von der Piscator-Schülerin Anna Gmeyner, einem Multitalent. Sie ist Romanautorin, Stückeschreiberin, Regisseurin, Songwriterin (ihr „Lied der Bergleute“ wird von Hanns Eisler vertont und von Ernst Busch interpretiert), politische Aktivistin… ein Energiebündel mit Gestaltungswillen. Die Diagonale hat Anna Gmeyner ihren heurigen Exil-Schwerpunkt (der wie immer von Synema in Kooperation mit dem Österreichischen Filmmuseum gestaltet wurde) gewidmet, einer bezeichnenderweise in ihrer Heimatstadt Wien weitgehend Unbekannten, sieht man von der erst vor wenigen Jahren (!) erfolgten Österreichischen Erstaufführung ihres Stückes „Automatenbüffet“ an der Josefstadt ab.

Auf den ersten Blick ist „The Passing of the Third Floor Back“ ein Dreigroschenstück, und es bedürfte, so scheint es, nur eines Windhauches, um die bedauerlichen BewohnerInnen der Pension Belle Vue in jene der Pension Schöller umzuwandeln. Dagegen spricht die unantastbare Würde im Spiel des Conrad Veidt als das personifizierte Gute (allfällige religiöse Interpretationen miteingeschlossen), der nur gekommen ist, um Augen zu öffnen und wieder geht, als sein Werk getan und, vor allem, die Himmel-und-Hölle Dialektik der Anna Gmeyner, die ihrem Mr. Wright aus dessen Rolle als mieser ältlicher Geschäftemacher, dem die Tochter des Offiziers ebenso Ware ist wie andere Spekulationsobjekte, heraus- und dem Reisenden als Antagonist, als Mephisto des Freien Marktes, entgegentreten lässt.
Mehr als drei Jahrzehnte später ist Pasolinis „Teorema“ entstanden, ein Besuch mit radikaleren Konsequenzen für alle Beteiligten, gewiss, doch auch Anna Gmeyner lässt in dieser Verfilmung eines britischen Konversationsstückes keinen Zweifel daran, dass Klassenunterschiede nicht durch noble Mitmenschlichkeit „kurierbar“ wären…

Ein Dorf in Tirol, Jetztzeit: Der Selbstmord dreier junger Männer hat bei den Hinterbliebenen Ratlosigkeit erzeugt. „Eigentlich“, befindet man, sei kein Grund für diesen nochgerade öffentlichen Suizid ersichtlich. Doch ein Gemeinsames, wie es das befreundete Trio offenbar hatte, verbietet sich. Einer schreit sich im Wald den Schmerz von der Seele, eine andere räumt den Kleiderschrank des verstorbenen Sohnes, behält kein Andenken, um nicht täglich der Erinnerung zu begegnen, allesamt sind sie für sich allein, nicht nur der Totenruhe wegen. Auf manchem Acker kann nichts gedeihen: da ist das mangelnde Vermögen, miteinander zu reden, Misstrauen, Missgunst und blanker Hass, die den Alltag des Ortes prägen. Es ist nicht die Unfähigkeit, zu trauern, es ist die Unfähigkeit, (miteinander) zu leben, die sie alle so ratlos und wütend macht. Hier bleibt jegliches, wie es immer schon war, die Jungen scheinen von der Lebenskrankheit der Alten infiziert. Am Ende eine, die verkündet, nach der Matura in die Stadt zu gehen und nimmer wiederzukommen – ein kleiner Sieg…

„März“, geschrieben und inszeniert vom Shooting Star der deutschsprachigen Theaterszene, Händel Klaus, sinniert über die schöne Gegend und die hässlichen Gefühle. Ist es besser, zu sterben, als lebendig begraben zu sein oder gibt es noch einen anderen, „dritten“ Weg? Kaum glaublich, dass dieser souverän erzählte Film ein Erstlingswerk ist, kaum unterscheidbar, wer im durchmischten, allseits formidablen Ensemble Profi und wer Laie ist, kaum vorstellbar, dass dieser Autor/Regisseur dereinst in Routine verfallen könnte…

Eine Rolle spielen. Endlich eine Rolle spielen: Kein Zellentrakt. Keine WärterInnen. Nur junge Frauen in Schminke, die eine Maske angelegt haben. Medea nur zum Trotz, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Gefängnisses zu Schwarzau unter Anleitung der Frau Leisch. Die Schauspielerin bleibt in ihrer Rolle, indem sie von sich erzählt. Ihre Vergangenheit reflektierend, wird sie dennoch nicht auf ihre Rolle zurückgeworfen, die ihr die Gesellschaft zugewiesen hat. Rolle rückwärts.

Das könnt ihr euch abschminken: Von den Insassinnen einer Strafanstalt wird gemeinhin erwartet, dass sie ein bestimmtes Rollenverhalten entwickeln. Beliebte Muster sind dabei: Die Reumütige, die Verstockte, die Trickreiche. Ihre Rolle so verstehend, dass sie ihre Rolle zu verstehen lernt: das war nicht der Zweck der Übung.

Eben dies jedoch in „Gangster Girls“ von Tina Leisch. Junge Frauen erzählen im Schutz der Maske (ihre) Geschichten, gebrochen durch den Text, den sie selbst (mit)bestimmen, anonymisiert, dadurch exemplarisch. Gangstertum: das ist organisiertes Verbrechen. Derlei wird hier nicht verhandelt, weit gefehlt: Gangster Girls: Das ist die Attitüde, die Lust an der „coolen“ Selbstdarstellung, das Abheben vom WarumWeswegenWohinführtdasalles. Das Abheben.

Anders als wir: Diese Vorstellung spielt nach „Gangster Girls“ keine Rolle mehr. Keine Erklärungen, keine Sozialstudie, keine SozialarbeiterInnen, kein unnötiges Theater. Bloß Theater: Der Vorhand zu und alle Fragen offen.

Momente: Wie in Josef Dabernigs „Hotel Roccalba“ die Großmütter den Nornen gleich am Schicksal stricken, indem sie die Socken stricken, die Fäden in der Hand haben, während die gesamte Familie Dabernig als Ensemble durch das Leben stolpert. Wie in Johann Lurfs „12 Explosionen“ daran erinnert wird, dass Feuerwerke einst die bösen Geister vertreiben sollten. Erhellendes: Wie Lichter in der scheinbar leeren Stadt aufblitzen. Suspense: Wie jeder Knall der letzte sein könnte. Wenngleich: Das Feuerwerk bekanntermaßen die bösen Geister vertreibt, während jeder Knall wieder an deren finsteren Absichten gemahnt, wenngleich…
Wie in Michael Palms „Laws of Physics“ eine/r Stimmen hört und nichts so bleiben wird, wie es einmal war. Klingeling! Nachts ging das Telefon und ich wusste schon, das kannst nur du sein. Oder wer?? In den Abfluss fließt so dies und das, aus dem Abfluss kriecht plötzlich…

Die Diagonale 2009, erstmals unter der Leitung von Barbara Pichler. Gelassenheit, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Keine Mottos, keine Aufgeregtheiten. Eine Änderung an einer „Nebenfront“: Wie die Podien bei den Diskussionen im Kunsthaus kleiner geworden sind und der Erkenntnisgewinn (bisweilen) größer geworden ist. Wie durch „Hoch und Nieder“-Themen den präziser gefassten, reflektierenderen Themenstellungen gewichen sind: Von der Breite in die Tiefe.