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Interview: Palästina, Libanon, Irak und die Antikriegsbewegung

Gilbert Achcar, Politikwissenschafter, politischer Aktivist und Buchautor, im Gespräch über die politische Situation im Nahen und Mittleren Osten und deren historische Wurzeln, über die Rolle der USA und über die Schwäche der palästinensischen Linken und der Friedensbwegung.

05.01.2009

Frage: 2008 jähren sich zum sechzigsten Mal die Gründung von Israel und die [damit verbundene] Nakba, die palästinensische Katastrophe. Was sind in deinen Augen die Ziele Israels und haben sich diese über die Jahre verändert? Welches ist die aktuelle Strategie Israels bezüglich des Gazastreifens und der West Bank?

 


Gilbert Achcar: Das sind gleich eine Menge Fragen! Nun, zunächst einmal besteht die Kontinuität von 1948 bis heute natürlich im ursprünglichen zionistischen Projekt, ganz Palästina, das ehemalige britische Mandat Palästina, in die Hände zu bekommen. Dies gelang 1948 nur zum Teil, als der israelische Staat auf etwa achtzig Prozent dieses Territoriums eingerichtet wurde. Dies wurde damals nur als ein erster Schritt angesehen, wie wir heute aus all den Biographien, Dokumenten und Archiven der zionistischen Führer und insbesondere Ben Gurions wissen – als erster Akt eines Bestrebens, das ganze Gebiet unter [israelische] Kontrolle zu bringen.

Dieser Zustand wurde 1967 erreicht, als Israel in das restliche Palästina eindrang und es besetzte – bis zum Westufer des Jordans. Daher ist es seit 1967, dem zweiten Hauptwendepunkt der Geschichte des Nahostkonflikts, das Problem Israels, den ursprünglichen Plan von 1948 in den besetzten Gebieten umzusetzen, indem diese durch den Bau von Siedlungen kolonialisiert werden. Es gibt jedoch einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Situation von 1948 und der von 1967. 1948 flüchteten achtzig Prozent der Bevölkerung, in dem von Israel kontrollierten Territorium vor dem Krieg. Die wurde terrorisiert, direkt oder indirekt, und flüchtete daher wie es jede Zivilbevölkerung während eines Kriegs tun würde. Wie allgemein bekannt ist, wurden die Menschen [nach dem Krieg] daran gehindert zurückzukommen; sie wurden so zu Flüchtlingen. Diese Flüchtlinge machen einen Großteil des palästinensischen Volkes aus. In den Gebieten, die Israel 1967 besetzte hingegen, geschah dies nicht mehr, da die Leute aus der Lektion von 1948 gelernt und begriffen hatten, dass sie nicht mehr würden zurückkommen dürfen, wenn sie ihre Häuser verlassen würden. Folglich blieben diesmal die meisten. Dieser Unterschied im Verhalten der palästinensischen Bevölkerung ist heute das Hauptproblem Israels.

Die Leute hatten aus den Geschehnissen von 1948 auch gelernt, dass sie nicht wie damals befürchtet massakriert werden würden, wenn sie blieben. Israel ließ nach 1948 eine arabische Minderheit auf seinem Territorium zu, und da diejenigen, die ausgeharrt hatten, am Leben geblieben waren, folgte 1967 die Mehrheit ihrem Beispiel. Seither hat Israel vergebens dieses – sein größtes – Problem zu lösen versucht: Die palästinensische Bevölkerung der West Bank und von Gaza. Diese lehnt die israelische Kontrolle über ihre Wohngebiete ab und widersetzt sich ihr.

Da es diese Bevölkerung nicht einfach vertreiben kann, strebt Israel nun die Kontrolle mittels eines Netzwerks von Siedlungen, strategischen und militärischen Posten, Straßen, Mauern und so weiter an. So sollen die PalästinenserInnen in voneinander abgetrennten, von Israel kontrollierten Enklaven gehalten werden, so wie der Gazastreifen als Ganzes zu einer Art riesigen Konzentrationslagers unter der vollen militärischen Kontrolle Israels von außen gemacht wurde.

Manche nennen diese Verhältnisse die „demographische Sackgasse“ Israels, denn Israel kann nun nicht mehr sowohl jüdisch wie auch demokratisch sein.

Darin liegt in der Tat das Problem. Die ganze Angelegenheit steht im Zusammenhang mit dem widersprüchlichen Anspruch, dass ein Staat gleichzeitig demokratisch und ethnisch als jüdisch definiert sein könne. Dies ist ein Widerspruch in sich, da allein schon die Definition eines Staates nach ethnischen oder religiösen Kriterien mit modernen demokratischen Werten unvereinbar ist. Natürlich muss eine überwältigende jüdische Mehrheit unter den Staatsbürgern sichergestellt werden, um diese Unlogik – den sogenannten demokratischen jüdischen Staat – glaubhaft zu machen.

Dieser Zustand war 1948 Realität. Die Zionisten akzeptierten eine Minderheit von 15 bis 20 Prozent von arabischen Palästinensern mit Alibifunktion unter sich. So konnten sie sagen: Unser Staat ist demokratisch; durch die Tatsache, dass 80 Prozent der Bevölkerung jüdisch ist, ist er auch jüdisch. Nach der Übernahme des Westjordanlandes und des Gazastreifens, wo der Hauptanteil der palästinensischen Bevölkerung verblieb, war es Israel jedoch nicht möglich, diese Gebiete auch zu annektieren, wie es mit den 1948 eroberten geschehen war. Einzig Jerusalem wurde 1967 [formell] annektiert (sowie 1981 die Golan-Höhen), der Rest der West Bank und Gaza wurden davon ausgenommen.

Weshalb? Vom Standpunkt der zionistischen Ideologie aus gesehen, ist das Westjordanland für Israel wesentlich wichtiger als der Golan. Der springende Punkt ist aber, dass der Golan nur eine kleine arabische Population aufweist und die israelischen Siedler heute beinahe so zahlreich sind wie die autochthone arabische Bevölkerung. Zufällig gehört auch noch eine Mehrheit davon zur drusischen Sekte, die Israel schon von jeher als integrierbar ansieht. (Drusen dienen im Gegensatz zu den anderen arabischen Israelis denn auch in der israelischen Armee.) Was Jerusalem betrifft, so wurde es 1967 aufgrund seines sehr hohen Symbolwerts augenblicklich annektiert. Aber den Rest des besetzten Landes konnten die Israelis nicht annektieren, weil sie sonst entweder innerhalb ihres Staatsgebiets einen großen Bevölkerungsanteil ohne politische Rechte gehabt hätten oder aber den in diesen Gebieten Ansässigen die Bürgerrechte hätten gewähren müssen, womit der jüdische Charakter des Staates infrage gestellt gewesen wäre. Mit anderen Worten: Hätte man die West Bank und Gaza annektiert, wäre der Staat Israel entweder nicht mehr jüdisch oder nicht mehr demokratisch im Sinne gleicher politischer Rechte für alle gewesen.

Dies ist in der Tat das große Dilemma des Zionismus, das Israel mit dem Allon-Plan zu lösen versuchte, der 1967, unmittelbar nach dem Krieg, entworfen wurde. Dieser Plan bestand darin, Siedlungen und militärische Basen zu errichten, um sich die strategische Kontrolle über die Gebiete zu sichern ohne die Regionen zu annektieren, in denen die palästinensische Bevölkerung konzentriert ist. Dies mit der Option, diese Kontrolle an eine [mögliche] mit Israel kollaborierende arabische Autorität zurückzugeben. Anfänglich plante man, die genannten Regionen wieder der jordanischen Monarchie zu übergeben. In den neunziger Jahren entschloss sich Israel aber, einen Handel mit der PLO zu abzuschließen, weil sich die führende Fraktion der PLO nun Willens zeigte, ihrerseits mit Israel einen Deal zu machen – und zwar unter den von Israel gewünschten Bedingungen. Dies führte zum Osloer Abkommen. Für Israel war das Osloer Abkommen bloß ein Schritt in dieselbe Richtung, die der Allon-Plan schon vorgesehen hatte. Arafat glaubte, dass die PLO eine Art unabhängigen Staat erreichen könnte. Er begriff aber rasch, dass er ein Opfer seiner eigenen Illusionen geworden war. Und der damals eingeleitete sogenannte Friedensprozess brach dann auch zusammen, wie wir heute wissen. Er liegt darnieder, und was auch immer Washington unternimmt, führt in eine Sackgasse. Ich rede hier nicht über Beziehungen zur Hamas, sondern zur sogenannten palästinensischen Autonomiebhörde unter Mahmoud Abbas. Es scheint keine Möglichkeit für eine Einigung zu geben, obschon Abbas gegenüber Washington der diensteifrigste aller Führer ist, den die Palästinenser je hatten. Nichtsdestotrotz gewähren ihm die Israelis keinerlei Konzessionen von Bedeutung. Wir befinden uns in einer völligen Sackgasse, und die Angelegenheit ist zu einer Riesenschlappe für die Vereinigten Staaten und die Bush-Administration geworden, eine von vielen im Nahen Osten. Die Bush-Mannschaft wird die Szene am Ende des Jahres mit der schlechtesten außenpolitischen Bilanz aller bisherigen US-Administrationen überhaupt verlassen. Ganz besonders gilt das in Bezug auf den Nahen Osten.


Edward Said hat über die PLO-Elite einmal gesagt: „Keine andere Befreiungsorganisation in der Geschichte hat sich in vergleichbarem Maß an ihre Feinde verkauft.“ Bist du der Ansicht, dass diese Beurteilung zutrifft?

Dieser Aussage muss eine detaillierte Untersuchung aller Befreiungsbewegungen gegenübergestellt werden. Ich bin mir nicht sicher, ob es in der langen Geschichte der antikolonialen Kämpfe keine vergleichbaren Fälle von Kapitulation gegeben hat. Aber mit Sicherheit haben wir es mit einer der unterwürfigsten Führungen in der Geschichte nationaler Befreiungsbewegungen zu tun, wenn auch nicht unbedingt mit der absolut unterwürfigsten. Die PLO-Spitze hat so viele Zugeständnisse, so viele Abstriche von ihren Grundforderungen gemacht, und trotzdem nichts Substantielles dafür erhalten können.


Haben irgendwelche spezifischen Charakteristika der PLO-Führung zu diesen Rückziehern geführt?

Nun, solche Charakteristika bestanden von allem Anfang an. In ihnen zeigt sich der Unterschied zwischen der PLO und den meisten antikolonialen und nationalen Befreiungsbewegungen der Geschichte. Eine hauptsächliche Besonderheit der PLO ist, dass sie sich von Beginn an eng an reaktionären Staaten anlehnte, von denen etliche [selbst] im Imperialismus verwurzelt waren und sind. So hatten wir diese sehr spezielle Situation, dass eine nationale Befreiungsbewegung einen zionistischen Staat bekämpfte, der starken Rückhalt im US-Imperialismus fand, während sie gleichzeitig von der Finanzierung durch Staaten wie dem Königreich Saudi-Arabien abhängig war, das seinerseits eng mit demselben US-Imperialismus verbandelt war. Als die palästinensische Guerilla nach dem Krieg von 1967 die Kontrolle über die PLO übernahm, wurde sie mit riesigen Summen aus dem Ölgeschäft überschwemmt. In der Tat steht fest, dass die PLO damit die reichste nationale Befreiungsorganisation in der Geschichte der antikolonialen Kämpfe wurde. Ihr Budget konnte mit dem einiger Drittweltländer mithalten. Dadurch konnte sich eine enorme Bürokratie, eine sehr korrupte dazu, entwickeln. Mit der Zeit wurden die besten Elemente, die engagiertesten Militanten, getötet, insbesondere 1970 in Jordanien, während des Schwarzen Septembers. So gab es eine gewisse Selektion, wobei die korruptesten Führerfiguren übrig und an der Macht blieben. Es gibt eine direkte Linie von dieser Entwicklung hin zu Oslo und der palästinensischen Autonomiebehörde von heute mit Mahmoud Abbas, Mohammed Dahlan und all diesen korrupten Führern, die ganz auf Washington setzen. Sie hoffen, dass die USA ihnen etwas geben werden. Und ihr Problem ist, dass sie trotz ihrer Unterwürfigkeit gegenüber Washington nicht das Geringste bekommen.


Was ist mit der palästinensischen Linken? Weshalb ist sie so schwach?

Die palästinensische Linke hat es nie wirklich geschafft, sich als echte Alternative zur rechtsgerichteten PLO-Spitze aufzubauen. Sie hat die Institutionen der PLO und deren Strukturen nie wirklich infrage gestellt. Sie akzeptierte einfach die Spielregeln, die die Führung der Fatah, der rechtsgerichteten PLO-Führung aufgestellt hatten. Obwohl es Auseinandersetzungen mit der Fatah-Spitze gab und Momente, in denen die PLO sich beinahe gespalten hätte, wurden die Differenzen stets im Namen der nationalen Einheit wieder beigelegt. So verlor die Linke ihre Glaubwürdigkeit als Alternative zur jeweiligen PLO-Führung und so kam Hamas ins Spiel. In den ersten Monaten nach dem Beginn der ersten Intifada im Dezember 1987 dominierte die palästinensische Linke in den besetzten Gebieten klar bei den Köpfen der Intifada, zusammen mit radikalen Mitgliedern der Fatah – dort hatte nämlich die korrupte Bürokratie im Exil keine Entsprechung finden können.

Trotzdem brachte die Linke es fertig, ab Sommer 1988 vor der rechten Führungsspitze im Ausland zu kapitulieren, die das Treffen des Palästinensischen Nationalkongresses im Oktober 1988 dominierte. An diesem Treffen wurde der sogenannte unabhängige Staat proklamiert und wurden die Vorbereitungen für direkte Verhandlungen mit Washington getroffen. In diesen Jahren, 1987/88, wurde die Hamas gegründet und griff ins Geschehen ein. Sehr schnell wurde die Hamas mit ihrem radikalislamischen Programm in den Augen des palästinensischen Volkes zur einzigen echten Alternative zur Fatah-Führung, zur PLO. Hamas gelang es im Gegensatz zur Linken, die damit kläglich scheiterte, sich als Alternative zu positionieren. Dadurch wurde die Hamas viel stärker als die Linke, obwohl dies nicht anfänglich nicht der Fall gewesen war; die Fundamentalisten waren nicht stärker als die Linken, nicht einmal im Gazastreifen.


Die Linke führt zurzeit eine Debatte, ob sie eine „Zwei-“ oder eine „Einstaaten-Lösung“ für Israel-Palästina anstreben solle. Wie stehst du zu diesen beiden Möglichkeiten?

Offen gestanden halte ich diese Diskussionen für Zeitverschwendung. Ich bin der Ansicht, dass es sich bei beiden Varianten um Utopien handelt, und doch führen einige diese Debatte, wie wenn das Ziel in greifbarer Nähe wäre. Beide Lager bezeichnen die Gegenseite als Utopisten, und beide haben recht: Beide „Lösungen“ sind utopisch. Ein „unabhängiger palästinensischer Staat“, der auf das Westjordanland und Gaza beschränkt wäre, ist völlig utopisch. Aber ich würde auch sagen, dass ein einziges Staatswesen mit zehn Millionen Palästinensern und sechs Millionen Juden noch viel unrealistischer ist, da dies das Ende des zionistischen Staates bedeuten müsste, wenn man die Sache vernünftig betrachtet. Anders würde das gar nicht funktionieren.

Deswegen glaube ich, dass es sich bei diesen Überlegungen um Utopien handelt und dass man zuviel Energie darauf verwendet. Eine Zeitverschwendung. Meiner Meinung nach müssen bei der Behandlung des Palästinenserproblems zwei Aspekte beachtet werden. Einerseits gibt es unmittelbare Probleme des palästinensischen Volkes, die dringend gelöst werden müssen. Wofür kämpfen die Leute in Gaza und im Westjordanland? Sie kämpfen in erster Linie gegen die Besetzung – und nicht für das Stimmrecht in Israel. Sie wollen die Souveränität über ihre Gebiete. Dieser Kampf sollte eindeutig unterstützt werden. Selbst wenn Sie die Einstaaten-Lösung propagieren, können Sie sagen: Ich bin gegen den palästinensischen Befreiungskampf im Westjordanland und in Gaza, weil er nicht meinen Idealvorstellungen von einer Lösung entspricht? Das wäre vom politischen Standpunkt aus völlig absurd.

Folglich, um es klar zu sagen, muss das effektive Ringen des palästinensischen Volkes um sofortige Befreiung aus der Zwangsjacke der Besetzung unterstützt werden. Auf der anderen Seite nun, wenn man eine langfristige Lösung des Problems ins Auge fasst, wenn man schon ein Programm mit utopischer Dimension ausarbeitet, weshalb sollte man dieses dann auf Palästina beschränken, egal ob man an einen oder an zwei Staaten denkt? Weshalb soll beispielsweise Jordanien aus dem Spiel gelassen werden? Es gibt in Jordanien mehr Palästinenser als im Westjordanland; tatsächlich sind sie in Jordanien selber, östlich des Jordans, sogar in der Mehrheit. Wieso also Jordanien aus den Überlegungen ausklammern? Zwischen 1949 und 1967 waren die West Bank und Jordanien ein Staat, in dem die Mehrheit dem palästinensischen Volk angehörte. Natürlich lag die Macht beim jordanischen Königshaus und natürlich war dieses Regime despotisch.

Als die palästinensische Guerilla in Jordanien quasi ein Staat im Staat war, setzte sich die palästinensische Führung nie für den Sturz der jordanischen Monarchie ein. Einzig die Linke forderte in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren den Sturz des Königshauses. Die Fatah stellte sich der Linken in diesem Punkt entgegen, was einer der Faktoren war, der es dem Herrscherhaus 1970 erlaubte, die palästinensische Bewegung in Jordanien zu zerschlagen. Deren Streitkräfte wurden im folgenden Jahr in Jordanien komplett hinweggefegt. Die palästinensischstämmige Bevölkerung, hauptsächlich Flüchtlinge von 1948, blieb natürlich im Land, aber die Befreiungsbewegung wurde zerschlagen und musste in den Untergrund gehen. Das war stets der Blickwinkel des rechten Flügels: Wir gehen nicht gegen arabische Regimes vor, wir kämpfen einzig und allein gegen Israel.

Dies ist die „Hauptwidersprüchlichkeit“ und wir sollten „zweitrangige Widersprüchlichkeiten“ herunterspielen. Es ist tragisch und absurd: Die sogenannte „Nebenwidersprüchlichkeit“, das heißt, die jordanische Monarchie, tötete bis 1971 mehr Palästinenserinnen und Palästinenser als Israel. Sie zeigte sich als andere Seite dieser Münze namens Israel. Die Bevölkerung des Westjordanlandes kann allein keinen wie auch immer gearteten Staat bilden, höchstens noch ein „Bantustan“. Aber wenn wir uns die jordanischen Gebiete als natürliche Ergänzung zur West Bank vorstellen, dann sieht die Sache anders aus. Aber um diese Option ausspielen zu können, müsste Jordanien zuerst eine demokratische Regierung erhalten. Darüber hinaus möchte ich behaupten, dass keine langfristige, endgültige und gerechte Lösung gefunden werden kann, außer auf regionaler Ebene und in einem sozialistischen Umfeld – mit einer sozialistischen Föderation in Nahost und angrenzenden Territorien. Dies ist natürlich [auch] eine Utopie, aber eine inspirierende. Wie ich zu sagen pflege: Wenn Du Utopien in die Welt setzen willst, dann suche eine beflügelnde Utopie, nicht eine gewöhnliche. Strebe das Außergewöhnliche an. Die große Utopie überwindet Grenzen, überwindet den Nationalismus, den Sozialismus. Das Geschilderte ist interessant, während eine Lösung mit einem Staat, mit Stimmrecht für alle, beschränkt auf Palästinenser und Israelis für mich als nicht inspirierend herüberkommt. Ich bin ganz und gar nicht davon überzeugt, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser trotz größerer Anzahl als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse in einem gemeinsamen Staat mit den Israelis leben möchten, so wie es jetzt in Südafrika ist, wo die Weißen immer noch den Hauptanteil der herrschenden Klasse bilden und immer reicher werden, wobei viele von ihnen in abgeriegelten Wohnbezirken leben. Und ich bin mir ganz sicher, dass die Israelis sich niemals mit der Rolle der politisch Schwächeren begnügen würden. Wir befinden uns [mit diesem Ansatz] also in einer Sackgasse.


Vorige Woche [Mai 2008] gab es größere Auseinandersetzungen zwischen hisbollahtreuen Kräften und der pro-westlichen Regierung im Libanon. Nachdem die Hisbollah die israelische Aggression gegen den Libanon 2006 zurückgeschlagen hatte, waren sie umjubelte Helden. Jetzt scheinen sich wieder größere Differenzen zu entwickeln. Was ist die Ursache?

Du hast Recht, dass sich etwas verändert hat. Ja, wirklich. Es stimmt, dass die Hisbollah 2006 einen großen Sieg errungen hat und in der gesamten arabischen Region und der islamischen Welt und darüber hinaus als eine Art heroischer Kraft gesehen wurde, die sich einem der engsten Verbündeten des US-Imperialismus, der widerwärtigen zionistischen Aggression, widersetzt. Ja, sie hatten den Status von Helden bekommen. Und es stimmt, dass dieses Bild durch die jüngsten Auseinandersetzungen Risse bekommen hat. Warum? In erster Linie, weil die Feinde der Hisbollah, die natürlich gleichzeitig die Feinde des Iran auf regionaler Ebene sind – d. h. das saudi-arabische Königreich, Jordanien und Ägypten – nur ein Argument hatten, mit dem sie der Hisbollah begegnen und den iranischen Einfluss zu stoppen versuchen konnten. Dies war und bleibt die Karte des innerislamischen Konfessionalismus: Verunglimpfung des Irans als persisch-schiitischer Macht und der Hisbollah als arabisch-schiitischer Agentin des Irans, der ein schiitisches Komplott gegen die arabischen Sunniten schmiede. So versuchen sie die Dinge darzustellen. Das scheiterte 2006 kläglich, weil die Bevölkerung in der Region – einschließlich der Türkei, da bin ich mir sicher – sehr stark gegen Israel und den US-Imperialismus war und daher mit der Hisbollah sympathisierte. Daher schenkte die überwältigende Mehrheit dem Argument „Schiiten gegen Sunniten” keinen Glauben.

Seither hat sich die Hisbollah auf einer religiösen Grundlage in die libanesische Politik verstrickt, mit Verbündeten, die einer konfessionellen Ausrichtung treu sind. Wie zum Beispiel die schiitische Amal-Bewegung: Das ist eine rein religiöse Organisation – nichts von einer anti-imperialistischen Organisation, einfach nur eine sektiererische Kraft. In den 1980er Jahren war Amal eigentlich anti-palästinensischer als irgendwer sonst. Jetzt ließ sich die Hisbollah soweit in die libanesische Religionsgruppenpolitik verwickeln, dass sie vor kurzem mit ihren konfessionell Verbündeten einen militärischen Angriff gegen dicht besiedelte Gebiete von Beirut und darüber hinaus durchführte. Das hatte erhebliche Folgen für ihr Image im Libanon – mehr im Libanon als anderswo, weil der libanesischen Bevölkerung die innenpolitische Lage im Libanon natürlich näher liegt als den Menschen etwa in Ägypten oder der Türkei. Ich denke, dass die Hisbollah in den jüngsten Kämpfen überreagiert hat.

Sie hatte völlig Recht, die Beschlüsse der Siniora-Regierung abzulehnen, aber sie hätte sie leicht zu Fall bringen können – wie schon bei früheren Entscheidungen, die ihr missfielen – ohne eine derartige Militäroffensive in Beirut und anderen Teilen des Libanon mit Verbündeten wie der Amal zu eröffnen. Dadurch beschwor sie eine Stimmung starker konfessioneller Ressentiments herauf. Deswegen denke ich, dass sie trotz ihres militärischen Siegs doch politisch verloren hat.

Dies weil es jetzt im Libanon eine heftige konfessionelle Polarisation Sunniten gegen Schiiten gibt. Das ist sehr gefährlich. Wie die Diskussionen zwischen den libanesischen Parteien in Katar zeigen, ist die Frage der Bewaffnung der Hisbollah jetzt auf dem Tisch. Vor den jüngsten Ereignissen hätte die von Hariri geführte Parlamentsmehrheit kaum gewagt, dieses Thema anzuschneiden, vor allem nachdem die Hisbollah 2006 so machtvoll bewiesen hatte, dass sie ihre Bewaffnung braucht, um die israelische Aggression abzuwehren und fernzuhalten. Nachdem sie jetzt erstmals seit vielen Jahren ihre Waffen bei internen Kämpfen eingesetzt hat, werden ihre Streitkräfte plötzlich als konfessionelle Miliz verunglimpft. Aus meiner Sicht hat die Hisbollah einen großen Fehler gemacht, mit der ernsten Konsequenz, dass der Libanon in so etwas wie eine neue Spirale der Gewalt eintritt. In einigen Jahren könnte uns das, was kürzlich passiert ist, nur als die erste Runde eines neuen Bürgerkriegs im Libanon erscheinen, es sei denn, regionale und internationale Bedingungen verhindern dieses pessimistische Szenario. Das ist natürlich furchtbar schlecht für den anti-imperialistischen Kampf in der Region, insbesondere nach dem schrecklichen Blutbad zwischen Sunniten und Schiiten im Irak, das immer noch weitergeht. Wenn sich das auf den Libanon und morgen vielleicht auf Syrien ausweiten sollte, wäre das eine Katastrophe für die gesamte Region. Die einzigen, die davon profitieren könnten, wären Israel und die Vereinigten Staaten, die beide versuchen würden, diese Situation auszunutzen.


Stellen die Kommunistische Partei des Libanon oder andere säkulare Linkskräfte Forderungen auf, das System völlig zu ändern, so dass es nicht mehr länger auf konfessionell ausgerichteten Identifizierungen und Parteien basiert?

Die Kommunistische Partei ist augenblickliche die einzige nennenswerte Kraft auf der Linken im Libanon. Alle anderen sind sehr kleine Gruppen. Unter den libanesischen Parteien von Bedeutung ist die KP ist eine der wenigen wirklich säkularen Gruppen mit einem säkularen Programm. Sie ist eine wirklich multi-konfessionelle Partei, mit Muslimen, sowohl Schiiten als auch Sunniten, Christen, Drusen etc. Der Generalsekretär der Partei hat einen sunnitischen Hintergrund, während die Mehrheit der Parteimitglieder Schiiten sind –wirklich eine multi-konfessionelle Partei. Sie steht für die Säkularisierung der libanesischen Politik. Und als linke Partei stellt sie soziale und ökonomische Forderungen. Die KP hat sich keinem der beiden großen politischen Lager im Libanon direkt angeschlossen.

Bei den jüngsten Zusammenstößen hielt sie sich von den Kämpfen fern. Natürlich sind die Kommunisten sowohl gegen die Regierung und das imperialistische Projekt im Libanon wie auch gegen die israelische Aggression: 2006 beteiligten sie sich am Kampf gegen die israelischen Streitkräfte. Aber sie können nicht die innenpolitischen Ziele der Opposition unterstützen, die sie als bürgerlich-konfessionsbezogene Ziele kritisieren. Sie kritisieren beide Seiten, wobei aber der Schwerpunkt bei den von Hariri geführten pro-westlichen Kräften liegt. In den letzten drei Jahren vertraten sie konsequent eine unabhängige Position. Das ist eine deutliche Verbesserung ihrer politischen Linie, denn in den 1970-er und 1980er Jahren war die Kommunistische Partei stark in Bündnisse unter bürgerlicher Hegemonie verwickelt: kürzere Zeit mit Arafat, längere Zeit mit dem feudalen Drusenführer Jumblatt wie auch mit dem syrischen Regime. In den 1990er Jahren begann eine tiefe Krise und Zersplitterung, als deren Folge die heutige Partei, wenn auch deutlich geschwächt, ihre Politik radikal verbesserte. Seit 2005 verfolgt sie eine wirklich unabhängige Linie, was mit den Mobilisierungen im März 2005 für uns gegen Syrien im Libanon nach der Ermordung des früheren Ministerpräsidenten Hariri begann.

Am 8. März 2005 organisierten Hisbollah und ihre Verbündeten eine große Demonstration zu Ehren von Syrien und seinem Präsidenten Bashar al-Assad. Die pro-westlichen Kräfte riefen zu einer Gegendemonstration am 14. März 2005 gegen Syrien auf; das ist der Grund, warum die derzeitige Mehrheit im Libanon „14. März” und die Opposition „8. März” genannt wird. Die Kommunistische Partei weigert sich, an einer dieser beiden Demonstrationen teilzunehmen, und rief zu einer dritten auf. Diese war natürlich wesentlich kleiner als die beiden Massendemonstrationen am 8. und 14. März, zu denen jeweils Hunderttausende kamen. Zu der von der KP organisierten Demonstration kamen nur einige Tausend Menschen. Aber mit ihren roten Fahnen repräsentierten sie sichtbar einen dritten Weg im Libanon, der die beiden anderen, konfessionellen Lager ablehnt. Hauptsächlich deswegen denke ich, dass sich ihre politische Haltung sehr stark verbessert hat, obwohl ich immer noch manche Vorbehalte habe – besonders wegen ihrer unterstützenden Haltung gegenüber der libanesischen Armee und ihrem Chef, der mit Unterstützung aller Kräfte zum Präsident gewählt werden soll. [1]


Es scheint, dass der einzige Weg zur Überwindung der religiösen Spaltung über linke politische und gewerkschaftliche Organisationen führt, die eine nicht religiös orientierte Alternative darstellen und sich gegen die neoliberale Politik stellen, die in diesem Land umgesetzt wird. Hat Hisbollah eine Neigung, Widerstand gegen diese neoliberale Politik zu organisieren?

Das ist eine völlige Illusion. Sie hat nichts Wesentliches gegen den Neoliberalismus und noch weniger gegen den Kapitalismus. Wie ihr wisst, ist ihr großes Vorbild das iranische Regime – sicher kein Bollwerk gegen den Neoliberalismus. Natürlich meint sie, wie andere islamistische Fundamentalisten, dass der Staat und/oder die religiösen Institutionen den Armen helfen sollten. Das ist Nächstenliebe. Die meisten Religionen befürworten und organisieren Nächstenliebe. Sie wollen bestehende soziale Ungleichheiten dadurch verringern, dass die Reichen den Armen ein paar Brotkrumen geben. Die Linke dagegen ist egalitär und betreibt keine „Nächstenliebe”. Die Hisbollah ist auf gar keinen Fall an der Sozial- oder Wirtschaftspolitik des Staates interessiert. In all den Jahren, in denen Rafik Hariri die Regierung und die syrischen Truppen den Libanon beherrschten und die grausamste neoliberale Politik verfolgt wurde, hat die Hisbollah niemals ernsthaft dagegen opponiert. Das gehört nicht zu ihrem Programm oder ihren Prioritäten.

Die Ereignisse traten in ihre letzte Runde, als einige Gewerkschaften zum Generalstreik aufriefen. Aber dies sind völlig verrottete Gewerkschaften, die von den Syrern kontrolliert wurden, bevor sie den Libanon verließen. Als sie das letzte Mal zu einem Streik aufriefen, wurde es ein totales Fiasko, weil die Opposition, d.h. im Wesentlichen die Hisbollah, außer Lippenbekenntnissen keine ernsthafte Unterstützung leistete. Diesmal nutzte die Hisbollah den Streik als Anlass, um gegen die politischen Entscheidungen der Regierung zu mobilisieren, die gegen sie gerichtet sind – nicht gegen ihre Sozial- und Wirtschaftspolitik. Das ist der Grund, weshalb, obwohl die Zusammenstöße am ersten Tag des Generalstreiks begannen, die sozialen und wirtschaftlichen Forderungen des Streiks in Vergessenheit gerieten. Hisbollah kämpft nicht gegen den Neoliberalismus, obwohl sie die Bedürfnisse ihrer plebejischen Wählerschaft gelegentlich auch mal bedienen kann. Die einzige signifikante Kraft, die sich gegen den Neoliberalismus im Libanon stellt, ist die Linke, hauptsächlich die KP.


Wenn wir uns nun dem Irak zuwenden – was bedeutet der jüngste Konflikt zwischen den Kräften, die loyal zur Maliki-Regierung stehen, und der Mahdi-Armee von Muktada al-Sadr?


Ursache ist das Zusammenfallen zweier Interessen. Unmittelbarer Grund der jüngsten Zusammenstöße ist die Tatsache, dass die Stärke der Mahdi-Armee und der sadristischen Bewegung im Irak unter den Schiiten in letzter Zeit stark zugenommen hat, besonders seit 2006. Sie wurden zur beliebtesten Kraft unter den irakischen Schiiten. Da die nächsten Wahlen, die für den Herbst angekündigten Kommunalwahlen, näher rücken, machen sich die anderen beiden großen schiitischen Gruppen – die Maliki-Gruppe (d. h. die Dawa-Partei) und der Supreme Islamic Iraqi Council (SIIC, Oberster Islamischer Rat im Irak) –, die mit der US-Besatzung zusammenarbeiten, große Sorgen über das zu erwartende Wahlergebnis. Wie ihr wisst, hatten die Sadristen anfangs mit diesen Gruppen die Vereinigte Irakische Allianz gebildet und waren bei den früheren Wahlen gemeinsam angetreten. Dann brachen sie das Bündnis und beschuldigten die anderen, Kollaborateure der Besatzer zu sein. Dawa und SIIC war klar, dass sie von den Sadristen geschlagen würden, wenn sich nichts änderte.

Dies war der erste und wichtigste Anreiz für den Angriff auf Basra und anschließend den auf Sadr-City in Bagdad. Sie versuchten die Sadristen zu schwächen oder zu marginalisieren. Andererseits betrachtet die US-Besatzung die Sadristen als Feinde und wäre überglücklich, wenn sie geschwächt würden. US-Besatzungskräfte sind mit den Sadristen mehr als einmal zusammengestoßen. Bei den jüngsten Zusammenstößen spielten die US-Kommandeure ein heuchlerisches Spiel und behaupteten anfangs, sie wären nicht beteiligt gewesen und die Sadristen wären kein Problem für die US-Streitkräfte mehr, seit sie ihre Militäraktivitäten eingefroren hätten. Es ist jedoch offensichtlich, dass die USA in die Kämpfe gegen die Sadristen stark verwickelt waren. Wie gesagt fielen zwei Strategien zusammen: die der US-Besatzer und die der Dawa-SIIC-Allianz, die darauf aus war, ihren Hauptkonkurrenten unter den irakischen Schiiten, die Sadristen, zu schwächen.


Was sind die Ergebnisse der US-Operation „Surge” [Ansturm, Brandung, Flutwelle]? Gewiss gab es einen relativen Rückgang der Gewalt zwischen den Religionsgruppen im Irak. Bedeutet dies, dass die US-Besatzung besser funktioniert?

„Surge” erreichte schon gewisse Ergebnisse, das ist wahr. Aus Washingtoner Sicht war sie erfolgreich. Das behaupten sie, weil das Niveau der Gewalt unter den Konfessionsgruppen insgesamt deutlich sank – was natürlich gut ist. Aber man sollte sich fragen, warum das passiert ist. Nun, einerseits weil mehr US-Truppen in Bagdad im Einsatz waren und die Sadristen sich zurückzogen und beschlossen, nicht zu kämpfen, als „Surge” begann. Aber das Schlüsselelement in der sogenannten „Surge” ist der Wechsel in der Strategie der Besatzung. Die USA begannen damit, was alle Kolonialmächte in diesen Teilen der Welt getan haben und was die Briten im Irak nach dem Ersten Weltkrieg machten, als sie die Kontrolle über das Land übernahmen: Sie spielten die Stammeskarte. Die USA versuchten also – buchstäblich oder durch Bestechung – sunnitische Stämme in den Sunnitengebieten zu kaufen. Sie bestachen einzelne Stämme und gaben ihnen Waffen zur Unterstützung bei der Bildung der sogenannter „Awakening Councils” („Erweckungsräte”), von Washington unterstützter Stammesstreitkräfte.

Sie bezahlen Mitgliedern dieser Stammesmilizen einen Sold von 300 US-Dollar pro Monat an aufwärts. Das ist ein enormer Betrag im Verhältnis zu den Durchschnittslöhnen im Irak, aber nicht viel verglichen mit den Kosten der Besatzung. Man kann das nachrechnen. Gibt man etwa 250 000 Menschen durchschnittlich 400 $ im Monat, sind das 100 Millionen Dollar: Das sind Peanuts verglichen mit den 12 Milliarden Dollar, die die USA jeden Monat für die Besatzung im Irak ausgeben Ich habe das noch nicht überprüft, aber es scheint mir sehr wahrscheinlich, dass die Stämme mit Geldern der irakischen Regierung bestochen werden. Wenn nicht, könnte Washington das jedenfalls leicht schultern. Kann dies jedoch für die USA eine langfristige Lösung sein? Langfristig wird dies ein weiterer wichtiger Faktor sein, der den Irak daran hindert, irgendeine Art von Stabilität zu erreichen, da die Spaltung des Landes in Stämme und religiöse Gruppen verstärkt wird. Paradoxerweise greifen unter dem Vorwand der Auflösung aller Milizen schiitische Kräfte in der Regierung die schiitischen Kräfte von Muktada al-Sadr an. Und die Sadristen antworten: „Ihr wollt uns entwaffnen, während die Sunniten ihre eigenen Milizen haben?” Das ist eine völlig verrückte Situation. Während die Vereinigten Staaten versuchen, sich selbst aus dem Sumpf und dem von ihnen im Irak angerichteten Desaster herauszuziehen, bereiten sie doch nur ein noch größeres Desaster vor. Der Irak ist eine einzige Tragödie und man kann sich in überschaubarer Zeit keine wie auch immer geartete stabile Lösung für dieses Land vorstellen, solange die USA über sein Schicksal bestimmen.


Denkst du, dass ein eventueller Wahlsieg von Obama die US-Politik im Nahen Osten und speziell im Irak ändern könnte? Ist ein Abzug aus dem Irak möglich?


Ich glaube, einen Abzug der US-Truppen aus dem Irak wird es nicht geben, solange Washington nicht dazu gezwungen wird. Die USA werden aus dem Irak nicht freiwillig abziehen, weil es nicht Vietnam ist. In Vietnam entschieden sie sich 1973 zum Abzug, als in ihrer Bilanz die Kosten des Krieges – politisch, ökonomisch, in jeder Hinsicht – soviel höher als der Nutzen einer Kontrolle Südvietnams durch die USA geworden war. Aber im Irak ist der Nutzen, das Land zu kontrollieren, enorm.

Das ist der große Unterschied zwischen Irak und Vietnam. Irak ist ein äußerst wichtiges Ölland inmitten der bei weitem wichtigsten Ölregion der Welt. Darum ist das, was auf dem Spiel steht, viel bedeutender als in Vietnam. Das ist der Grund dafür, dass der US-Imperialismus einen Abzug wie in Vietnam nicht in Erwägung ziehen kann. Sie werden versuchen, Lösungen zu finden, bei denen sie die Kontrolle über das Land behalten und es zugleich stabilisieren. Denn was würde es nützen, ein reiches Ölland zu kontrollieren, wenn man das Öl nicht ausbeuten kann? Daher müssen sie das Land stabilisieren.

Ich denke, dass die nächste Regierung, wer immer das sein wird, einerseits die jetzige Strategie der Bush-Regierung einer „Irakisierung” des Krieges durch sunnitische Stämme und so weiter fortsetzen wird -- wie damals die „Vietnamisierung” in Vietnam. Zweitens werden sie versuchen, ein Abkommen sowohl mit dem Iran als auch mit Syrien zu erreichen. Sicher werden sie versuchen, ein Abkommen mit Syrien zu schließen und es vom Iran zu trennen. Aber sie müssen auch mangels einer besseren Lösung, d. h. eines „Regime-Wechsels”, ein Abkommen mit dem Iran zimmern, um die Region zu stabilisieren. Dies war eine der zentralen Empfehlungen der von Baker und Hamilton mit geleiteten parteiübergreifenden Irak-Studiengruppe, die vor der Operation „Surge“ gebildet worden war: Verhandlungen mit Teheran and Damaskus.


Eine andere wichtige Frage, die auch mit der türkischen Politik verbunden ist, ist die einer autonomen Kurdenregion im Irak. Was ist die US-Strategie im Hinblick auf die Kurden?

Das ist ein größeres Dilemma für die USA. Jeder sollte sich an Washingtons Verrat gegenüber den Kurden nach dem ersten Irakkrieg 1991 erinnern, als diese sich gegen Saddam Hussein erhoben und die USA ihn den Aufstand einfach niederschlagen ließen. In gleicher Weise erlaubten die USA Saddam Hussein, die Rebellion im Süden des Iraks zu zerschlagen. In beiden Fällen wurden Zehntausende von Menschen getötet. Danach errichteten die USA im kurdischen Norden eine Art von Protektorat, ein anglo-amerikanisches Protektorat in Irakisch-Kurdistan. Dies zum Einen, weil die Türkei über den Strom kurdischer Flüchtlinge vom Irak in das türkische Gebiet beunruhigt war und sie diese nach Irakisch-Kurdistan zurückschicken wollte. Die Europäer waren ebenfalls beunruhigt darüber, dass die irakischen Kurden letzten Endes als Asylbewerber in Europa auftauchen könnten. Die Westmächte wollten auch zeigen, was für große Menschenfreunde sie sind, da sie eine Bevölkerung schützen, die unter den Giftgasangriffen Saddam Husseins leiden musste.

So wurden die Führer Irakisch-Kurdistans Washingtons engste Verbündete im Irak. Als im Jahre 2003 die Besetzung Gesamt-Iraks begann, erwies sich diese Allianz für Washington als sehr nützlich. Die Kurdische Allianz von Talabani und Barzani ist der wichtigste und verlässlichste Verbündete der USA im Irak. Eigentlich haben die USA im Irak überhaupt keine zuverlässigen Verbündeten außer den Kurden. Jemand wie Iyad Allawi mag ein zuverlässiger Verbündeter sein, aber er kommandiert keine signifikanten Kräfte, wie es die Kurden tun. Die bedeutenden schiitischen Streitkräfte sind keine zuverlässigen Verbündeten für Washington, weil jeder weiß, dass sie eng mit Teheran verbunden sind, vor allem das SIIC. Bestenfalls sind sie schwankende Kräfte, die mit der Besatzung kollaborieren, aber nicht besonders zuverlässig. Somit ist der einzige zuverlässige Verbündete der USA tatsächlich die kurdische Führung. Das Problem für Washington ist jedoch, dass die Kurden auch ihre eigenen Ziele haben.

Sie wollen einen de facto unabhängigen Staat errichten; keinen offiziell unabhängigen Staat, weil sie wissen, dass das einen Krieg mit der Türkei erfordern würde, den sie sich nicht leisten können. Sie wollen alle Attribute eines unabhängigen Staates, außer dem Namen. Außerdem wollen sie das von ihnen kontrollierte Gebiet ausweiten, so dass es Orte wie Kirkuk einschließt. Sie wollen ein größeres Irakisch-Kurdistan. Dies kollidiert natürlich mit den Bestrebungen anderer Irakis. Und so stehen die USA vor einem echten Dilemma: Washington braucht die kurdischen Verbündeten, kann sich aber gleichzeitig nicht leisten, die irakischen Araber wegen der Kurden zu verlieren. Das Problem schieben sie Jahr um Jahr vor sich her. Die Kirkuk-Frage hätte nach den ursprünglichen Plänen schon längst gelöst sein sollen. Ein Referendum hätte organisiert werden sollen, aber es wurde immer wieder verschoben. Das ist für den Irak eine echte Zeitbombe.


Denkst du, eine Aufteilung des Iraks in kurdische, sunnitische und schiitische Gebiete oder Staaten wäre möglich?

Diese sogenannte Lösung würde Krieg bedeuten. Jeder Versuch, das Land zu teilen, wird unter den gegenwärtigen Bedingungen zu Krieg führen. Das würde in der Region eine Situation schaffen, die für die USA noch schlimmer wäre. Das ist der Grund, warum Washington ganz und gar kein Interesse hat, eine Teilung zu unterstützen, obwohl es in den USA und im US-Kongress manche Menschen gibt, die für eine Abspaltung wären oder für eine Art loser Föderation. Aber selbst eine Föderation wird sehr schwer einzuführen sein. So etwas wäre nur möglich, wenn man etwa gleich große Öl- oder Gaslagerstätten in allen drei Schlüsselregionen des Iraks hätte. Die Kurden versuchen, das Ihre zu sichern. In der sunnitisch-arabischen Region gibt es ein größeres Gasfeld, dessen intensive Erforschung jetzt politische Priorität genießt, weil es benötigt wird, um die Sunniten zu befriedigen.

Wenn sich jede Region mit bedeutenden Kohlenwasserstoffressourcen ausstatten ließe, könnte es am Ende irgendeine Art von Föderation im Irak geben mit den USA als Schiedsrichter zwischen den drei Regionen: einer kurdischen, einer arabisch-sunnitischen und einer arabisch-schiitischen. Das könnte eine optimale Lösung für Washington sein, aber schwierig auszuarbeiten – ich meine ein wirkliches Abkommen, einen Konsens zwischen allen größeren Gruppen. Nicht durch Bewaffnung jedermanns, wie es die USA derzeit tun; sondern durch Steigerung der Stammeszwistigkeiten und Spaltungen nach Konfessionen könnte dies erreicht werden. Die USA legen die Saat für eine dauerhafte Tragödie im Irak aus. Schon heute ist es eine große Tragödie. Der Irak erlebt eine permanente Tragödie, seit dem Machtantritt Saddam Husseins und seiner Kumpane 1968 bis hin zum mörderischen US-Embargo. Die Tragödie, die die Irakis seit Beginn der Besatzung 2003 erleben, wird von einigen als ebenso schlimm gesehen. Und ich kann kaum einen Ausweg in absehbarer Zukunft erkennen.


Glaubst du, die Antikriegsbewegung geht als soziale Kraft zurück? Wenn ja, was sind die Ursachen dieses Rückgangs?


Nun, die Bewegung ist stark zurückgegangen im Verhältnis zu den Mobilisierungen direkt vor der Invasion in den Irak. Dafür gibt es ständige und episodische Gründe. Ein episodischer Grund, der hauptsächlich die USA betrifft, aber auch den Rest der Welt, sind die US-Wahlen und die Erwartung vieler Menschen, dass es zu einem radikalen Wechsel in der Irak-Politik der USA kommen könnte. Wie üblich haben die Wahlen einen demobilisierenden Effekt auf die Antikriegsbewegung. Ein anderer episodischer Grund, über den wir bereits sprachen, ist der relative Erfolg der Operation „Surge”. Auch dies hat einen demobilisierenden Effekt auf die Antikriegsbewegung, weil das Empfinden für die Dringlichkeit des Kampfes gegen die Besatzung zurückgeht.

Hinzu kommt ein eher ständiger Grund, nämlich dass die Natur der Kräfte, die sich dem US-Imperialismus entgegenstellen, weit weniger Sympathie auslöst als in der Vergangenheit. Ich meine, dass die USA in Vietnam den vietnamesischen Kommunisten gegenüberstanden, die sehr geschickt die Bevölkerung der USA und der ganzen Welt ansprachen. Es gelang ihnen, die Sympathie der öffentlichen Meinung weltweit zu gewinnen. Heute sind die Kräfte, die den USA gegenüberstehen, hauptsächlich islamistische Fundamentalisten, am besten verkörpert durch al-Qaida. Sie können sicher keinerlei Sympathie in der öffentlichen Meinung auslösen, insbesondere im Westen, wo das Gros der Antikriegsbewegung ist und sein sollte, weil eine Antikriegsbewegung vor allem in den kriegführenden Staaten von Bedeutung ist. Die Natur der Kräfte, denen der US-Imperialismus heute gegenüber steht, hilft also nicht beim Aufbau einer starken Antikriegsbewegung.

In denke, das ist das dringendste Problem der Antikriegsbewegung. Die wichtigste Aufgabe jeder gegen den Krieg oder den Imperialismus gerichteten Bewegung sollte sein, der Öffentlichkeit zu erklären, dass man, je mehr Kriege wie diesen man führt, um so mehr Fanatismus und Fundamentalismus bekommen wird. Um zu erklären, dass diese Kriege nur die Dialektik der Barbarei verstärken, nenne ich das den „Zusammenstoß der Barbareien” [2], wobei die größere Barbarei die von Washington ist und die kleinere die von einer fanatischen Bande islamistischer Fundamentalisten. Das ist ein Desaster für alle Menschen weltweit. Es ist daher absolut notwendig, die Kriege und die anhaltende imperialistische Aggression zu stoppen. Eine solche Botschaft sollte die Antikriegsbewegung ausdrücken und nicht etwa: „Wir unterstützen jeden, der gegen den US-Imperialismus kämpft, egal wer er ist und was er sonst tut.” So gewinnt man keine breite Unterstützung für die Beendigung des Kriegs.


Das ist ein ernstes Dilemma für die antimilitaristische, antiimperialistische Linke, weil der Widerstand gegen die imperialistische Aggression in vielen Ländern der Region vom politischen Islam geführt wird. Wie kann die Linke Solidarität mit solchem Widerstand zeigen, ohne den Kampf für Säkularisierung, Frauenbefreiung und Arbeiterrechte aufzugeben?


Ich glaube nicht, dass man dafür eine allgemeine Regel aufstellen kann. Es hängt von der Situation ab, über die wir sprechen. Im Irak beispielsweise gibt es Gruppen, die die US-Besatzung bekämpfen, aber dieselben Gruppen sind gleichzeitig in konfessionell begründete Gewalt verwickelt.

Und diese Gruppen haben viel mehr Zivilisten aus Gründen der Konfessionszugehörigkeit getötet als die Koalitionstruppen. Unter solchen Umständen zu sagen: „Wir unterstützen den irakischen Widerstand” wäre völlig falsch. Man kann nicht sagen, dass man solche Kräfte unterstützt. Man sollte sagen: „Wir unterstützen den Kampf gegen die Besatzung” oder aus didaktischen Gründen noch besser: „Der Kampf gegen die Besatzung ist legitim und auf jeden Fall (wirklich) notwendig.” Das wäre gut. Man unterstützt nur die Handlungen, nicht die Handelnden, wenn man nicht Verantwortung für all deren Taten übernehmen kann. Im Irak kann man keine bestimmte Kraft unterstützen, weil alle Kräfte, die gegen die Besatzung kämpfen, gleichzeitig Kräfte des religiösen Fanatismus sind. Es werden also zwei Kriege gleichzeitig geführt: ein gerechter und ein sehr reaktionärer. Kommen wir nun auf Libanon oder Palästina zurück, also die Fälle von Hisbollah und Hamas.

Dort haben wir islamistisch-fundamentalistische Kräfte, die sich gegen die israelische Aggression stellen. Man kann sagen: „Wir unterstützen den Volkskampf gegen die imperialistische Aggression unabhängig von der Natur seiner Führung; wir unterstützen den Kampf trotz unserer Vorbehalte gegenüber seiner Führung.” Mehr noch bin ich überhaupt gegen jede unkritische Unterstützung irgendeiner Führung, selbst der allerfortschrittlichsten Führung – umso mehr, wenn sie nicht fortschrittlich ist, sondern reaktionären Ideologien anhängt. Wenn der Kampf eindeutig legitim ist, aber von nicht-fortschrittlichen Kräften geführt wird, sollte man sehr deutlich sagen: „Wir unterstützen den Kampf, aber wir teilen nicht die Perspektiven seiner Führung.”

Danke für das Gespräch.


Gilbert Achcar wuchs im Libanon auf und lehrt Politikwissenschaften an der London’s School of Oriental and African Studies. Sein Bestseller „The Clash of Barbarisms” erschien 2006 in zweiter, erweiterter Auflage; deutsche Übersetzung: Der Schock der Barbarei, (Neuer ISP-Verlag 2002, ISBN: 978-3899001044). Unter dem Titel „Perilous Power” erschien eine Sammlung von Gesprächen mit Noam Chomsky über den Nahen Osten. Zusammen mit Michael Warschawski ist er Autor von: „The 33-Day War: Israel’s War on Hezbollah in Lebanon and It’s Consequences” (deutsch: „Der 33-Tage-Krieg: Israels Krieg gegen die Hisbollah im Libanon und seine Folgen”, Edition Nautilus, ISBN: 978-3894015398).


(Dieses Interview mit Gilbert Achcar wurde am 20. Mai 2008 von Cinzia Nachira für die in der Türkei gedruckte kritische Zeitschrift "Mesele" (Streit-Frage) geführt und in der Ausgabe des darauf folgenden Monats veröffentlicht. Übersetzung: Hans Peter Frey und Björn Mertens. Quelle: INPREKORR, Nov-Dez 2008)