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70 Jahre nach Trotzkis Ermordung: Er ist und bleibt ein Adler

Vor siebzig Jahren, am 20. August 1940, wurde der russische Revolutionär Leo Trotzki von einem Agenten Stalins in Mexiko ermordet. In der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung ist Trotzkis Name verknüpft mit der russischen Revolution von 1905, der Oktoberrevolution 1917, dem Sieg der Roten Armee im Bürgerkrieg, der Gründung der IV. Internationale und vor allem mit einer Reihe theoretischer Errungenschaften, zu deren wichtigsten seine Theorie der permanenten Revolution, seine Kritik des Stalinismus und seine Analyse des Nationalsozialismus gehören.

11.10.2011

Vor siebzig Jahren, am 20. August 1940, wurde der russische Revolutionär Leo Trotzki von einem Agenten Stalins in Mexiko ermordet. In der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung ist Trotzkis Name verknüpft mit der russischen Revolution von 1905, der Oktoberrevolution 1917, dem Sieg der Roten Armee im Bürgerkrieg, der Gründung der IV. Internationale und vor allem mit einer Reihe theoretischer Errungenschaften, zu deren wichtigsten seine Theorie der permanenten Revolution, seine Kritik des Stalinismus und seine Analyse des Nationalsozialismus gehören.

Trotzkis Wirken war so umfassend, dass es kaum möglich erscheint, es auf zwei Seiten zu würdigen. Deshalb sei hier auf einige seiner theoretischen Errungenschaften verwiesen.

 

Seine Theorie der permanenten Revolution geht davon aus, dass in (halb)kolonialen Ländern die historischen Aufgaben der bürgerlichen Revolution (z. B. Enteignung des Großgrundbesitzes, Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes unterdrückter Nationalitäten, Unabhängigkeit vom Imperialismus) nur durch die Arbeiter­Innenklasse, die die Bauernschaft anführt, gelöst werden können. Die Arbeiter­Innenklasse verfolgt aber im revolutionären Prozess ihre eigenen, weitergehenden Forderungen, die in einer sozialistischen Revolution münden. Das klassische Beispiel dafür ist die russische Revolution von 1905 und 1917, aber auch die jugoslawische, chinesische oder kubanische Revolution weisen eine Dynamik der permanenten Revolution auf.

Fraktionsrecht und Rätedemokratie

Der vierundzwanzigjährige Trotzki gehörte 1903 im Exil zur Leitung der sozialdemokratischen Iskra-Gruppe, die den II. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) – den eigentlichen Gründungsparteitag – vorbereitete. In den Debatten über die demokratisch-zentralistische Organisationsstruktur, die zur Bildung der beiden Fraktionen Menschewiki und Bolschewiki (späteren Parteien) führte, betonte er von Anfang an die Wichtigkeit der internen Demokratie für den Aufbau der revolutionären SDAPR, während Lenin den Schwerpunkt mehr auf den Zentralismus legte. Als Trotzki jedoch nach der Februarrevolution 1917 nach Russland gelangte, musste er einsehen, dass nur die Bolschewiki Lenins eine revolutionäre Partei aufgebaut hatten, die der russischen Selbstherrschaft und dem kapitalistischen System gefährlich werden konnte. Die Oktoberrevolution ließ Trotzki die Sichtweise Lenins übernehmen.

 

Er, der in der ersten russischen Revolution von 1905 einer der Vorsitzenden der Räteorganisation in St. Petersburg gewesen war und dem Sowjet der Arbeiter­Innen und Soldaten in der Hauptstadt auch 1917 wieder vorstand, protes­tierte während des Bürgerkriegs nicht mehr gegen die Entleerung der Sowjets, einer Folge des Verbots aller anderen Arbeiterorganisationen. Trotzki stimmte auch dem Fraktionsverbot auf dem 10. Parteitag der KPdSU zu, das zunächst nur für die Sowjetunion galt. Erst in den innerparteilichen Auseinandersetzungen um die Nachfolge Lenins trat Trotzki ab 1923/24 gegenüber Sinowjew, Kamenew und Stalin wieder für das Recht auf freie Fraktionstätigkeit ein, was in der alten SDAPR und in der internationalen Sozialdemokratie eine Selbstverständlichkeit gewesen war. Und im späten Exil, seine Ausweisung erfolgte 1929 in die Türkei, fand er wieder zurück zu einer Rätekonzeption, die auf einem Mehrparteiensystem beruhte.

Einheitsfront gegen den Faschismus

In der 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale war die u. a. vom Ratgeber der KPD, Karl Radek, mitentwickelte Taktik der Einheitsfront heftig umstritten. Eng verknüpft mit der Forderung nach Bildung von Arbeiterregierungen führte die enge Zusammenarbeit der KPD mit der SPD 1923 zu einer schweren, fast kampflosen Niederlage der revolutionären Arbeiter­Innenbewegung in Deutschland. Trotzki kommt das Verdienst zu, in seinen Schriften gegen den Nationalsozialismus ab 1930 die Taktik der Einheitsfront neu begründet und ihr neue Aktualität verliehen zu haben, wobei er allerdings auch darauf verwies, dass sie hauptsächlich in Defensivsituationen anzuwenden sei. Hätte die stalinistische KPD unter Thälmann der SPD im Kampf gegen Hitler eine Einheitsfront „von unten“ und „von oben“ vorgeschlagen, um gemeinsam die Stützpunkte der Arbeiterdemokratie in der bürgerlichen Gesellschaft gegen den täglichen Straßenterror der Nazis zu verteidigen, so wie es Trotzki empfahl, dann wäre der Sieg über den Faschismus zwar nicht sicher, aber immerhin möglich gewesen.

Stalinismus und Bürokratie

Was die Dauerproblematik der Bürokratisierung großer Arbeiterorganisationen anbelangt, schlug die Analyse Trotzkis ein neues Kapitel auf. Waren die gewerkschaftliche und die sozialdemokratische Arbeiter­Innenbürokratie den Revolutionär­Innen seiner Zeit wohlbekannt, so musste sich Trotzki mit dem neuen Phänomen der Bürokratisierung des ersten Arbeiter­Innenstaates auseinandersetzen, welche wiederum ihre bürokratischen Ableger allen kommunistischen Parteien aufzwang. Die Ursache für die Herrschaft der Staats- und Parteibürokratie in der Sowjetunion, als deren politischen Ausdruck Trotzki den Stalinismus charakterisierte, der sein Selbstverständnis in der Doktrin vom „Sozialismus in einem Land“ fand, sah Trotzki hauptsächlich im Ausbleiben der Weltrevolution. Die falsche Taktik der kommunistischen Parteien hatte in den verschiedensten Ländern zu entscheidenden Niederlagen der Arbeiter­Innenbewegung geführt.

 

In diesem Zusammenhang besteht eine der größten Leistungen Trotzkis in der kontinuierlichen politischen Verarbeitung revolutionärer Prozesse in der ganzen Welt: der drei russischen Revolutionen von 1905 und 1917, in England 1926, in China 1926-27, in Deutschland 1923 und 1930-33, in Spanien 1930-31 und 1936-1939, in Frankreich 1936. Von seinem letzten Exil in Mexiko aus nahm Trotzki auch regen Anteil am Parteiaufbau der Trotzkist­Innen in den USA, sowie am mühsamen Aufbau einer neuen internationalen Organisation. Mit der Gründung der IV. Internationale 1938 half er, nach der Zersetzung der Kommunistischen Internationale die Kontinuität des revolutionären Marxismus über den 2. Weltkrieg hinaus zu sichern, weil für ihn nur eine internationale Arbeiter­Innenorganisation in der Lage war, die Totalität des Weltkapitalismus zu erfassen und seinen Sturz in Angriff zu nehmen.

Trotzkis Schwächen

Neben den politischen Errungenschaften weisen das Wirken und das Werk Trotzkis auch Schwächen auf, die manchen vorgeblichen Anhänger­Innen nicht bewusst sind oder von ihnen geleugnet werden.

 

Eine politische Schwäche war, wie Trotzki später selbst zugab, seine nicht genügend klare Einschätzung der Differenzen in der Sozialdemokratie Russlands, die nach Isaac Deutscher auf mangelhafte Unterscheidung zwischen dem revolutionären und dem reformistischen Flügel in der SDAPR beruhte. Dies war um so verwunderlicher, da ja spätestens seit der Revisionismus- und Ministerialismusdebatte 1898 die Differenzen zwischen Revolution und Reformismus in allen größeren sozialdemokratischen Parteien Europas mehr als deutlich geworden waren. Hier ließ sich Trotzki in seiner innerparteilichen Stellungsnahme vierzehn Jahre lang weniger von internationalen Gesichtspunkten, als von der beengten Sichtweise des Kampfes in Russland leiten, wo sich unter dem Druck des Zarismus selbst die reformistischen Menschewiki einen revolutionären Anstrich geben konnten.

 

Auch in seiner Charakterisierung des Thermidors in der Sowjetunion irrte Trotzki, also mit der Bestimmung jenes Zeitpunktes, an dem die Herrschaft der Arbeiter­Innen und Bäuer­Innen in der Sowjetunion so weit zu einem bürokratischen System degenerierte, dass eine neue – politische – Revolution nötig war. Zehn Jahre lang behauptete Trotzki, dass der Thermidor erst noch bevorstehe, um 1935 zu entdecken, dass er bereits 1924 stattgefunden hatte. Das war kein kleiner Fehler. In der Zwischenzeit hatte sich Trotzki mit vielen ihm nahestehenden linken Kommunist­Innen, so in der Sowjetunion mit der Fraktion der Demokratischen Zentralisten und in Deutschland mit dem Leninbund über diese Frage zerstritten und gespalten. Dies ist nur durch das riesige politische und moralische Gewicht des ersten Arbeiter­Innenstaates zu erklären, das, auf Trotzki las­tend, auch dazu führte, dass sich er und die Linke Opposition der KPdSU Mitte der Zwanziger Jahre von Stalin gegen wirkliche oder vermeintliche Anhänger­Innen im Ausland ausspielen ließen.

 

Gegen die Bolschewisierung der kommunistischen Parteien nahm Trotzki nie Stellung. Die 1925-27 erfolgte „Bolschewisierung“, die die Kommunistischen Parteien außerhalb der Sowjetunion in undemokratische, atomisierte, monolithische, vom Apparat beherrschte Organisationen verwandelte, kritisierte Trotzki wohl deshalb nicht, weil es die „vorbildhafte“ Organisationsstruktur der KPdSU bzw. der SDAPR war, die auf die kommunistischen Parteien in aller Welt übertragen wurde. Die „Bolschewisierung“ verunmöglichte die von Trotzki bis 1933 vertretene Perspektive der Reformierung der Kommunistischen Parteien. Zwar war es damals richtig, in den kommunistischen Massenparteien linke Oppositionsarbeit zu leisten. Aber falsch war es, dies mit der Illusion von deren Reformierbarkeit zu verbinden, die manchen linken Kommunist­Innen z. B. in Deutschland den Zugang zur Linken Opposition versperrte.

 

Auch der Leninismus, eine Erfindung Sinowjews/Kamenews im Kampf gegen Trotzki 1924/25, dem spiegelbildlich das Konstrukt des „Trotzkismus“ entsprach, wurde nie von Trotzki infrage gestellt. Nicht nur die revolutionären, auch die konservativen Traditionen der KPdSU lasteten so schwer auf ihm, dass er zwar der Dogmatisierung des leninschen Werkes entgegentrat, aber die Verteidigung des revolutionären Marxismus nur unter dem Deckmantel des wahren „Leninismus“ wagte.

 

Diese Schwächen Trotzkis zu benennen, mag für diejenigen seiner Nachfolger­Innen eine Lästerung darstellen, die, wie viele der „trotzkistischen“ Organisationen, aus ihm einen Säulenheiligen machen. Für uns stellen Trotzkis Schwächen seine Stärken und Verdienste in ein noch helleres Licht. In diesem Sinne gilt das Urteil Lenins über Rosa Luxemburg auch für Trotzki: „Aber trotz aller dieser […] Fehler war [er] und bleibt [er] ein Adler“.


Peter Berens

 

 

Quelle: RSB/IV. Internationale, Avanti