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Wohin der Weg führt

Kurt Hofmann

Zu „Crossing Europe“ in Linz/2013

07.05.2013

Nun ist das zehnte Jahr erreicht. Im Jubiläumsjahr des Filmfestivals „Crossing Europe“ ist noch einmal festzuhalten, was schon in den vergangenen Jahren als die besondere Qualität offenkundig war: dass da ein Gegenentwurf zum glattgestrickten Modell des „Eurofilmes“ gefunden wurde. Jungen, engagierten FilmemacherInnen, die in ihren Arbeiten nicht darauf setzten, was das Publikum angeblich sehen will, wurde ein Forum geboten. Viele von ihnen sind mittlerweile auch bei etablierteren Festivals präsent, alle sind sie im Lauf der Jahre nach Linz wiedergekommen.
Was „Crosssing Europe“ unverwechselbar macht, das ist zum einen die „Handschrift“ der Intendantin Christine Dollhofer, die konsequent und unbeirrbar ihrer programmatischen Linie treu bleibt – zum Nutzen des Festivals – und zum anderen die Atmosphäre: ich kenne keine/n, der/die nicht gerne im April in Sachen Film nach Linz kommt, es ist eben keine „Pflichtveranstaltung“.
In diesem Sinne: Gratulation zum Dezenium. Was für das Festival in der Beantwortung klar ist, war vielleicht der gemeinsame  Nenner einiger bemerkenswerter Filme der diesjährigen Auswahl: die Frage danach, wohin der Weg führt.
 
Da drischt einer wie wild mit einem Baseballschläger auf parkende Autos ein. Auf der Stirn hat er sich, als unmissverständliches Zeichen, „Fuck off“ tätowieren lassen. Wogegen er rebelliert? Das läßt sich so nicht sagen. Es müsse sich alles ändern, sagt er, kein Stein dürfe auf dem andern bleiben. Das Land, in dem er lebt, ist Polen, der junge, ungebärdige Mann, der nahezu birst vor Wut, heißt Bogus, und er hat sich vor seinem Ausbruch noch schnell des Messgewandes entledigt… Vom Ministrant zum  Möchtegern-Revoluzzer? Wie geht das? Das ist wohl typisch „Made in  Poland“ (Polen 2010; Regie Przemyslaw Wojcieszek). Ein Rebell ohne Grund? Der Gründe gebe es viele, und einige davon liefert Regisseur Wojcieszek, dem Crossing Europe heuer ein Tribute widmete, mit einem Stimmengewirr aus dem Off nach: da sind die Parolen des ultrakonservativen Senders „Radio Maryja“, einer  ideologischen Speerspitze der polnischen Rechten zu hören, da dringen, unterbrochen von Schlagern, den Symbolen verlogener Illusionen, die Stimmen anderer, die immer schon wussten und noch wissen, was für das  Land gut ist, ans Ohr der BetrachterInnen, eine Collage enttäuschter Hoffnungen und künstlich geschürter Ängste. Ein Rebell ohne Ziel? Das ist Bogus wohl schon eher, vor allem aber ist es aber mit seinem Rebellentum nicht weit her. Er kreuzt bei seinem ehemaligen Lieblingslehrer aus vergangenen Schulzeiten auf, dem einzigen, der „anders“ gewesen sei, und versucht, diesen als Mentor und zukünftigen Anführer zu gewinnen, doch hochprozentig ist bei dem zynisch gewordenen Pädagogen längst nur dessen Alkoholkonsum. Er flüchtet sich in die Kirche und sucht die Hilfe „seines“ Priesters, als ihm ein lokaler Gangsterboss, dessen Auto er bei seiner Zerstörungsaktion auch demoliert hat, Schläger nachschickt… Irgendwann wird Bogus wohl wieder „funktionieren“, seine Wut wird kanalisiert sein, und sich, wie im Lande beliebt, gegen Minderheiten richten, oder, andere Variante, er hilft dem stets menschenfreundlichen Priester, der ihm die Beschädigung seines Autos, anders als der Gangsterboss, nicht übel genommen hat, als „Geläuterter“ bei der Betreuung anderer verirrter Schafe: Noch ist Polen nicht verloren, aber ändern wird es sich nicht.
Wie sehr die mittlere, festivalerprobte Generation polnischer FilmemacherInnen vom Ist-Zustand ihres Landes geprägt ist, zeigte sich jüngst in Malgoska Szumowskas „W'Imie…“ (In the Name of) bei der Berlinale, welche in ihrem Berlin-Beitrag die sexuellen Nöte eines engagierten Priesters, der in der polnischen Provinz schwererziehbare Jugendliche betreut, thematisierte, gleichermaßen in Wojcieszeks „Made in Poland“, der ebenso, wenn auch mit einem Anflug von  Ironie, einen allzeit geduldigen und verständigen Kirchenmann mit ins Zentrum seines Filmes stellt.
Mitten in Europa ist da ein Land abseits des Sekularen, die vom Wege abgekommenen jugendlichen (Haupt-)figuren der polnischen Filme dieser Tage landen letztlich stets in der so fürsorglichen wie unmissverständlichen Umarmung des seelsorgerischen Zugriffs. Noch ist Polen nicht verloren, aber ändern wird es sich (wohl) nicht.
 
Wahrheit oder Lüge? Layla Fourie hat sich, auf der Suche nach einem fixen Job in Johannesburg (Südafrika), zur Polygraphistin ausbilden lassen. Eine Maschine, der Lügendetektor, soll anzeigen, ob der/die Befragte die Wahrheit gesprochen hat. Das Interview so zu führen, dass die zu Untersuchenden entsprechend reagieren, ist die Aufgabe der PolygraphistInnen. Längst schon hat man zwar die Wissenschaftlichkeit derartiger Methoden angezweifelt, doch Layla nimmt ihren Job ernst, nicht nur, weil sie ihn als alleinerziehende Mutter dringend braucht. Vielmehr, weil sie auch ihren Sohn Kane lehren will, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden.
Doch dann dies: Abends, bei schlechter Sicht, überfährt sie einen ihr unbekannten älteren Mann. Auf dem Weg zu einem Krankenhaus stirbt er. In Panik lädt sie ihn auf einem abgelegenen Ort ab – auf einer Müllhalde… Nun muss sie Kane, der Zeuge des Geschehens war, erklären, weshalb all die unumstößlichen ethischen Prinzipien nicht mehr gelten und er stillhalten soll… Dass sie durch Zufall einem ehemaligen Testkandidaten begegnet, dessen Familie ihr den langen Anreiseweg zur Arbeit erspart, indem diese sie und Kane, ihre neuen Freunde, einladen, bei ihnen zu wohnen, erleichtert ihre Lage nicht, denn es sind wie sich herausstellt, die Familienangehörigen des durch Layla Getöteten…
Allzu konstruiert wirkt „Layla Fourie“ (Deutschland/Südafrika 2013), der neue Film von Pia Marais, die zum dritten Mal bei „Crossing Europe“ mit dabei ist („Die Unerzogenen“/2007, „Im Alter von Ellen“/2009). Der überraschenden Wendungen, der szenischen Ausrufezeichen, sind es zu viele. Es bleibt die grundsätzliche Frage, angelehnt an Ibsens Dramen, um die Lebenslügen: da muss eine Wahrheitsfanatikerin, die sich auch noch beruflich, zur „wissenschaftlichen Erkundung“ der Wahrheit verpflichtet hat, konsequent die Unwahrheit sagen, um zu überleben, um ihre Beziehungen aufrecht zu erhalten, um ihren Sohn nicht ins Nichts zu stoßen. Wie lange kann Layla diesem Druck standhalten? Was, wenn sich herausstellt, dass die vollständige Wahrheit für keine/n der Beteiligten erträglich wäre und nötigenfalls durch eine neu konstruierte Wahrheit ersetzt werden müsste? Solche Fragen stellt „Layla Fourie“ und Pia Marais, die offenkundig weiß, was Typen wie Ibsens Gregers Werle in ihrem gnadenlosen Wahrheitsdrang anrichten können und plädiert darin für eine differenzierte Sicht abseits der Maschinenlogik von wahr und gelogen…
 
Da ist diese Quizzshow, deren SiegerIn reich werden könnte. Zehra und Olgun, die beide in einer Cafeteria an der Autobahn arbeiten, sehen sie permanent im türkischen Fernsehen. Olgun liebt es, darüber zu spekulieren, wie er das gewonnene Geld ausgeben würde. Stolz zählt er Zehra auf, welche Statussymbole er dann erwerben könnte und fragt sie nach ihrer Wunschvorstellung. Doch die will gar keine Prinzessin werden, sondern nur weg, vom frustrierenden, immergleichen Job, von den familiären Zwängen, aus dem patriarchalisch strukturierten, jede Abweichung von den vorgeschriebenen Verhaltensmustern sanktionierendem Land. Nicht mehr so weiterleben zu müssen, nicht mehr hier weiterleben zu müssen, das wäre Zehras Ziel… Eines Tages taucht Mahur auf, ein Mann in mittleren Jahren, der mit seinem LKW Waren in ferne Länder transportiert. Nur ein Gast, weder jung, noch schön, doch an keinen Ort gebunden. Von Beruf Fernfahrer: Fern – fahrer! Zehra verliebt sich in ihn. Ein reifer Mann, der, anders als Olgun, weiß, was er will, und sich nicht einengen lässt, leider auch nicht von Zehra… Statt unterwegs mit dem „Fliegenden Holländer“ auf den sieben Weltmeeren (oder wahlweise auf den Landstrassen der „weiten Welt“) findet sich Zehra auf dem Boden der Realität wieder. Ein „Happy End“ kann nur das Fernsehen bieten: Glückliche Gewinner, Traumhochzeiten, lachende, entspannte Menschen…
 
„Araf“ (Türkei/Frankreich/Deutschland 2012; Regie: Yesim Ustaoglu) zeichnet ein düsteres Bild des türkischen Alltags. Der repressive Staat, in Yesim Ustaoglus erfolgreichsten frühen Kinoerfolg „Reise zur Sonne“ (1999) noch omnipräsent, wird in „Araf“ nicht thematisiert, wohl aber, wie jede Lebensregung über das Vorgesehene hinaus sofort im Keim erstickt wird, das von Oben nach Unten auch in der „kleinsten Zelle“ des Staates von klein auf eingeübt wird. Von „modernen Zeiten“ zeugt nur das Interieur der Wohnzimmer, in deren Zentrum die Illusionsmaschine Fernsehen, ein flimmerndes Tor zur Welt. Zehras Vorstellungen von einem anderen, selbstbestimmten Leben mögen vage und kaum reflektiert (aber wo hätte sie das denn lernen können, wer hätte sie jemals dazu animiert?) sein und ihr Ausdrucksvermögen limitiert (aber wer hätte denn jemals abseits des immergleichen stumpfen Vokabulars mit ihr gesprochen, außer dem ihre Nähe suchenden Schwätzer Olgun?), doch dass „das“ nicht alles gewesen sein kann, davon ist sie überzeugt. „Araf“ erzählt über das nicht gelebte Leben und was diese Leere in einer jungen Frau wie Zehra bewirkt. Am Ende, als alles verloren scheint, taucht als deus ex machina das Fernsehen auf: im Scheinwerferlicht wird alles gut – eine ironische Schlußvolte von Ustaoglu, die keinen Zweifel an den wahren Verhältnissen läßt…
 
Was wäre wenn: Der Neurowissenschaftler Lukas hat sich für ein Experiment zur Verfügung gestellt: er soll in die Gedankenwelt einer Komatösen einsteigen, unerforschtes Land betreten. Zuerst sind da nur Klänge, Bilder, aber von Anfang an ist da ein Sog, der Lukas in etwas hineinzieht, wovon er mehr zu erfahren begehrt. Aus Konturen werden Bilder, das Abbild einer Frau, die sich ihm erst entzieht, später hingibt. Ein Faszinosum mit Suchtwirkung: Lukas trennt sich von seiner („realen“) Freundin…
Ein Mann wird in einen Wassertank versetzt, am Schädel sind Elektroden befestigt: dieses Bild des Wissenschaftlers, bereit, sich dem Unerwarteten auszusetzen, weckt Erinnerungen - an Ken Russels „Altered States“ (USA 1980). Doch anders als im Selbstversuch des von William Hurt dargestellten Wissenschaftlers ist in Kristina Buozytes „Aurora“ (Litauen/Frankreich/Belgien 2012) das Experiment unter (eingeschränkter) Kontrolle, ein Ende in Wahnsinn und Schrecken bleibt dem „mad scientist“ (der hier ein Proband ist, dessen Berichte unvollständig ausfallen, um sich der Kontrolle oder einem möglichen Versuchsabbruch zu entziehen) erspart. Der Wahn, in den Lukas verfällt, ist anders geartet: während er vermeint, der Geschichte im Kopf der Frau und damit in seiner Traum(a)erzählung auch jener immer näher zu kommen, könnten der Abbau aller Schranken in seinen sexuellen „Begegnungen“ mit der Unbekannten wie auch die Gewaltausbrüche einer dritten, „bedrohlichen“ Person gegen die Frau nicht mehr (und nicht weniger) als die Projektionen uneingestandener eigener Phantasien und Sehn-süchte sein. Denn süchtig ist Lukas geworden und überzeugt davon, dass sein Erleben von der Unbekannten geteilt wurde. Vielleicht…
Science Fiction: Das ist nur eine (plausible) Sichtweise des von Lukas Erlebten, eine Option unter mehreren zur Wahl der Zusehenden, die den Wissenschaftler im Kino bei seinem Experiment begleiten. Experiment: Wer bereit ist, seinen/ihren Blickwinkel zu erweitern, sich auf ungewohnte Perspektiven einzulassen, der/die ist bei Markus Keuschniggs Genre-Reihe „Nachtsicht“, in deren Rahmen „Aurora“ gezeigt wurde, gut aufgehoben, einer Programmschiene, die ebenso unverzichtbarer Teil wie Kontrast und „Stachel im Fleisch“ von „Crossing Europe“ ist – auch dies eines der Erfolgsgeheimnisse des Festivals im zehnten Jahr.
 
Elektra ist Anfang 30, Kunststudentin, und verfügt, wie ihre Eltern befinden, über keine Perspektiven. Nun ist das eine nicht unbekannte Einleitung für Auseinandersetzungen zwischen den Generationen und vielfach ist ein derartiges Statement vom mangelnden Verständnis der Altvorderen für den Lebensstil der Nachrückenden bestimmt. So zwar auch hier, doch Elektras Eltern sind wahrlich keine Reaktionäre, vielmehr aus dem linken griechischen „Adel“, während der Militärdiktatur waren sie inhaftiert, nun sind sie involviert – in alle Aktivitäten der intellektuellen Elite Griechenlands. Aber dass die „überreife“, hochbegabte Tochter weder Job noch Ehemann hat, vielmehr lediglich durch die regelmäßige Betreuung des achtjährigen Sohnes einer Freundin zu ein wenig Geld kommt, ihr Studium vernachlässigt und ihre künstlerische Arbeit hintanstellt, sich an Stelle dessen aber regelmäßig an von den offiziellen Medien als gewaltsam denunzierten Demos beteiligt und den inhaftierten, als „Terroristen“ bezeichneten Freund im Gefängnis besucht, so oft es denn eben möglich ist, das goutieren die Eltern Elektras nicht, da hätten sie sich, allen von ihnen verachteten Elternklischees zum Trotz, doch anderes erwartet…
Elektra hingegen läßt sich nicht festlegen: sie setzt in ihrem Leben auf das Spontane: bei kurzfristigen politischen Aktionen, die Improvisation verlangen, bei der Organisierung von Festen, im Umgang mit denen, die ihr etwas bedeuten…
Was Constantina Voulgari mit ihrem Film „A.C.A.B. All Cats Are Brilliant?“ (Griechenland 2012) gelingt, ist nicht hoch genug zu schätzen. Da wird, völlig abseits des Zeitgeistes, nicht die Hoffnungslosigkeit der (gesellschaftlichen) Situation, und auch nicht das traurige Lied des unvermeidlichen Scheiterns beschworen, sondern durch Elektra und ihre FreundInnen das Porträt einer Generation gezeichnet, die – inmitten der katastrophalen griechischen Verhältnisse, der Zumutungen durch außen und von innen, der Würgegriffe von IWF, Weltbank und EU – eine lustvolle Gegenkultur entwickelt hat: miteinander leben, lieben. kämpfen, auch feiern, dann wieder agieren, sich nicht durch Dritte definieren lassen… So wie Elektra die zu erwartende langjährige Haftstrafe ihres Freundes nicht brechen kann, ist auch ihrer „Clique“ der Lebensmut nicht zu nehmen.
Manches in „A.C.A.B. All Cats Are Brilliant?“ ist fiktiv, vieles dokumentarisch, alles authentisch. Abseits der Klischees ein Film wie ein frischer Luftzug, der Höhepunkt eines im Ganzen eher durchschnittlichen Jubiläumsjahrs.