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In Zeiten wie diesen

Kurt Hofmann

Zur Viennale 2020

15.10.2020

Während anderswo Festivals abgesagt werden, findet die Viennale wie geplant (22.10. - 1.11.2020) statt, nicht zuletzt dank eines gut durchdachten Präventionskonzepts. Auch dem Umstand, dass der Nachfrage vermutlich nicht mit dem pandemiebedingt verringerten Platzangebot nachgekommen werden kann, wurde auf vorbildliche Weise begegnet. So werden die Viennale-Filme nicht nur in den üblichen Festival-Kinos (Gartenbau, Stadtkino im Künstlerhaus, Metro, Urania, Österreichisches Filmmuseum) gezeigt, sondern auch in diversen Programmkinos (Admiral, Filmcasino, Votiv, Le Studio, Blickle-Kino im Belvedere 21), was zum einen ein breiteres Angebot sichert und zum anderen die Programmkinos aktiv unterstützt.
Das Programm: Da sind zum einen Highlights jener Festivals, die heuer stattfinden konnten. Da wären zum anderen die diesjährige Retro „Recycled Cinema“ (in Zusammenarbeit mit Sixpack), dem Found-Footage-Film gewidmet, zwei Monographien, deren eine dem unvergessenen Christoph Schlingensief zugeeignet ist, deren andere – die Mikrokosmen der ehemaligen Tänzerin Isabel Pagliai erkundet, die selbst die Kamera führt und in ihren Filmen auf Totale und Gegenschüsse verzichtet. Ein Schwerpunkt ist dem stets unkonventionellen Beobachter gesellschaftlicher Verhältnisse (in Schieflage) Zelimir Zilnik gewidmet, der auch für einige Tage nach Wien kommt, das Filmarchiv Austria widmet sich 2020 den „Austrian Auteurs“ der 1970er Jahre.
Und für alle, die Covid-19-bedingt heuer auf den Besuch der Diagonale verzichten mussten, gibt es - dank der Viennale – deren bisher nur online gezeigtes Programm endlich auch (zumindest teilweise) im Kino zu sehen – wo es hingehört.
Doch nun zu einigen Höhepunkten im variantenreichen Programm der Viennale 2020:
„Sheytan Vojud Nadarad“ (There Is No Evil; Iran 2020; Regie: Mohammad Rasoulof) ein Episodenfilm über die Todesstrafe gewann bei der Berlinale 2020 den "Goldenen Bären".
Da ist Heshmat, einer von denen, die scheinbar kein Wässerchen trüben können, so bieder wieangepasst. Und doch ist es sein Beruf, andere im Auftrag seines Staates vom Leben zum Tode zu befördern... Da ist Pouya, der Soldat, dem sein Vorgesetzter befiehlt, zum Henker zu werden, dessen Gewissen sich aber dieser Order widersetzt... Da ist Javad, gleichfalls bei der Armee, der anlässlich eines Heimaturlaubes seine Freundin an deren Geburtstag mit einem Antrag überraschen will und diese samt ihrer Familie in tiefer Trauer antrifft, weil ein enger Freund des Hauses einen gewaltsamen Tod erlitten hat. Als Javad ein Foto des Verstorbenen sieht, erblasst er... Und da ist Bahram, ein Arzt, der nicht praktizieren darf und von seiner in Deutschland aufgewachsenen Nichte erstmals (auf "Anregung" ihres Vaters...) besucht wird. Was sie von Bahram schließlich erfährt, stellt ihr bisheriges Leben in Frage...
„There Is No Evil“ setzt auf raffiniert aufgebaute kurze Erzählungen, welche das auf scheinheiligen Paragraphen fußende Recht des (iranischen) Staates, dem Leben eines Abweichlers ein vorzeitiges Ende zu bereiten, in Zweifel ziehen. Es ist, so zeigt Rasoulof, eine Frage der moralischen Überzeugung, nicht zu einem Rädchen im Getriebe der Macht zu werden. „There Is No Evil“ führt seinen Dialog nicht mit den Verantwortlichen für die grausame Praxis der Todesstrafe, sondern mit jenen, die in Gefahr sind, ihre „Unschuld“ zu verlieren, und zu Schuldigen zu werden. Denn hier ist, wie schon der Titel des Filmes impliziert, nicht das Böse zu finden, sondern die Anpassung an das „Unvermeidliche“, ein Mitläufertum, auf das alle Regime setzen. Sich jedoch zu verweigern, hat zweifellos Folgen, doch es hinterlässt, auch das zeigt „There Is No Evil“ unübersehbare Spuren...

Die Erwartungen, welche Luc, der Sohn eines Tischlers, in Paris setzt, betreffen nicht nur sein mögliches Studium der Kunsttischlerei. Kaum angekommen, trifft er in der Vorstadt auf Djemila, die ihm den Weg weist, durchaus auch sprichwörtlich. Bald schon holt er sie am späten Nachmittag von der Arbeit ab... Gegensätze ziehen einander an: Ist Luc von Djemilas Natürlichkeit fasziniert, so bewundert sie den eloquenten Kreativen. Doch als sich Djemila Luc verweigert, bricht er die Beziehung ab... Wartend auf die Prüfungsergebnisse, ist Luc heimgekehrt. In dem Provinzort taucht unerwartet Genevieve, seine Jugendliebe, deren Familie vor Jahren den Ort verlassen hatte, wieder auf und ist mehr als willig, am Vergangenen anzuknüpfen... Doch während Genevieve schon Pläne für eine gemeinsame Zukunft schmiedet, denkt Luc wieder intensiv an Djemila, mit der er am Telefon ein Treffen in Paris vereinbart... Dort eingetroffen, trifft er aber auf Betsy, mit der er bald zusammenzieht, doch auch deren Untermieter hat ein Auge auf Betsy geworfen – man trifft ein Arrangement... Dass Luc die Aufnahme in die Eliteschule geschafft hat, macht dessen Vater stolz, der ihn in Paris besucht und doch feststellen muss, dass es die alte Vertrautheit zwischen Vater und Sohn nicht mehr gibt. Der Tod des Vaters markiert ein Ende, doch ein neuer Anfang ist für Luc nicht in Sicht...
Luc, die Hauptfigur von Phillipe Garrels neuem Werk „Le Sel des Larmes“ (The Salt of Tears; Frankreich 2020; Drehbuch: Jean-Claude Carriere) ist ein unsteter Flaneur wie einst Leaud. Nicht zufällig setzt Garrel bei der Nouvelle Vague an. Sein Film, in Schwarz-Weiss gedreht und durch einen Off-Kommentar gegliedert, wirkt wie aus der Zeit gefallen. Wenn Betsy durch das in der gemeinsamen Wohnung liegen gelassene Handy Lucs vor ihm vom Tod dessen Vaters erfährt, erstaunt die Tatsache, dass Luc ein Mobiltelefon besitzt, mehr, als die eben wiedergegebene tragische Nachricht... Jean-Claude Carriere, einst Bunuels Drehbuchautor, erzählt die Geschichte auf zwei Ebenen: Da ist die vom hin- und hergerissenen jungen Mann, der sich stets nach der jeweils Anderen sehnt (das zeitigt allerdings auch ein Frauenbild, welches ebenfalls aus der Zeit gefallen ist - was Garrel wohl nicht weiter schert...) Und zum anderen: Der Vater (wunderbar: André Wilms), in dessen Tischlerei der Sohn darauf vorbereitet wird, den Lebenstraum des Alten, Kunsttischler zu werden, „stellvertretend“ zu verwirklichen... Doch das ist kein Aufoktroyieren. So leicht Luc mit der Liebe umgeht, so schwer nimmt er seinen Auftrag, sein Erbe. Was der Vater sagt (und er spricht nicht viel), hat Gewicht. Aber da ist kein Druck, keine auf-, gar durchgesetzte Autorität, vielmehr ist da Vertrauen. Sie hören einander zu, lassen dem Anderen Raum. Mit dem Vater stirbt auch Lucs einziger Bezugspunkt: auch damit fällt Garrels Film aus der Zeit... Was Garrel in „The Salt of Tears“ gemeinsam mit Carriere erzählt, hat manche/n befremdet. Ein Anderes ist es, auf welche Weise sie es angehen: Und in dem Wie, da liegt der ganze Unterschied...

Autumn ist siebzehn und muss nach einem Test erfahren, dass sie ungewollt schwanger ist. Als sie der Ärztin in der Klinik vermitteln will, dass sie eine Abtreibung vornehmen lassen will, friert deren süßliches Lächeln ein. Ob sich Autumn nicht doch ein kleines Video anschauen wolle, bevor sie an derlei denke, fragt sie und schon wird diese genötigt, sich durch ein Abtreibungs-Gegner-Video namens „Die harte Wahrheit über die Abtreibung“ anagitieren zu lassen... Doch Autumn kennt ihre Pappenheimer im ländlichen Pennsylvania und ihr ist klar, dass sie den Staat verlassen muss, um ihren Plan umzusetzen. Freilich hat sie nur eine Verbündete: ihre Cousine Skylar, die wie sie nach der Schule im Supermarkt arbeitet. Dort werden sie vom Abteilungsleiter mies behandelt, ein Grund mehr für Skylar, sich für die Kosten der Busfahrt nach New York und jene der Abtreibung an der Ladenkasse zu bedienen...
Es ist nicht leicht, eine Abtreibungsklinik zu betreten, ohne zuvor von hysterisch schreienden fundamentalen Christen belästigt zu werden, aber Autumn und Skylar ignorieren diese. Autumn wird von der Klinik aufgenommen, doch sie muss einige Tage in New York bleiben und das Leben in der legendären Metropole ist teuer. Skylar nutzt die hartnäckigen Annäherungsversuche eines Jungen, der angeblich Musiker ist, um das gemeinsame Konto aufzubessern. Derweil wird Autumn an ihrem zweiten Tag in der Klinik gebeten, einige Fragen zu beantworten, mit denen sie nicht gerechnet hat...
Was als erstes an „Never Rarely Sometimes Always“ (USA 2020; Regie: Eliza Hittman) auffällt, ist die unaufgeregte Herangehensweise. Da wird nicht emotionalisiert, es fehlen Wut, Tränen und „dramatische Höhepunkte“, all dies, was das US-Kino sonst zu diesem Thema liefern würde. Es fehlt jedoch noch etwas: die übliche Wendung zum Schluss des Filmes, in der sich die Protagonistin, überwältigt von der Situation, doch entschließt, ihr Kind auszutragen... Eliza Hittman zeigt vielmehr, einer Chronistin gleich, wie schwer es für zwei siebzehnjährige Mädchen ist, auch nur einige Tage in der großen Stadt zu überleben, aber ebenso, wie Autumn sich trotz alledem nicht beirren lässt. Bis auf einmal: Wenn sie in der namensgebenden Szene gefragt wird, ob sie nie, selten, manchmal oder immer in der Vergangenheit sexueller Gewalt ausgesetzt war – da wird eine fest verschlossene Tür in ihrer Erinnerung geöffnet...
„Never Rarely Sometimes Always“ ist ein sensibles Porträt zweier Freundinnen voll Sympathie für diese und ohne Belehrungswillen. Denn Hittmans Film ist ohnedies eine exemplarische Geschichte, so schnörkellos und unmissverständlich wie empathisch.

Tsai Ming-Liangs neuer Film „Rizi“ (Days; Taiwan 2019) kommt ohne Dialoge aus und schildert die auf- wie vergehende Liebe zweier Männer unterschiedlichen Alters wie Herkunft. Kang, der Ältere der Beiden, lebt in einem großen Haus. Non besitzt eine kleine Stadtwohnung in Bangkok und hat sich auf die Zubereitung traditioneller Speisen spezialisiert. Minutenlang ist zu sehen, wie er in einem großen Behältnis Gemüse wäscht, nicht mehr und nicht weniger. Tsai Ming-Liang nimmt sich Zeit, hält bisweilen sogar das Bild an... In der ersten Begegnung der Beiden versucht Non Kang von seinen chronischen Schmerzen durch Massage zu heilen: Das gelingt, doch je länger die Massage dauert...
Weshalb die Beziehung zwischen Kang und Non schließlich scheitert, erfährt man nicht, dass sie gescheitert ist, wird an ihrer Vereinsamung deutlich: Non sitzt mitten in der Metropole Bangkok alleine auf einer Parkbank und starrt vor sich hin, rund um ihn tobt der städtische Verkehr. Und Kangs Mimik lässt erahnen, dass dem körperlichen nun der seelische Schmerz gefolgt ist, sodass er wieder auf sich selbst zurückgeworfen ist...

1820, Oregon: Glücksritter sind unterwegs, um das Neue Land zu erkunden und zu besiedeln. Der Sehnsucht, Gold zu finden, steht der harte Alltag der Trapper entgegen. Immerhin werden Pelztiere gejagt und erlegt. Cookie schlägt sich als Koch durch, wird mehr geduldet als akzeptiert, doch sein kurzfristiges Ziel ist kein anderes als jenes der übrigen Pioniere: über den Tag zu kommen. Das ändert sich, als Cookie auf King Lu, einen chinesischen Einwanderer, den er vor dessen Verfolgern beschützt, trifft und in ihm einen Freund findet. Und King Lu, ein pfiffiges Bürschchen, hat eine Idee, wie Cookie seine besonderen Talente optimal nützen kann: gemeinsam wollen sie Donuts backen und verkaufen, später vielleicht eine Bäckerei eröffnen. Allerdings brauchen sie dafür Milch. Als sie von einem reichen Engländer, einem Lord, hören, der die erste Kuh in den Westen importiert hat, melken sie diese heimlich im Schutz der Nacht. Freilich ist der Plan der Beiden nicht so perfekt wie gedacht...

„First Cow“ (USA 2019), der neue Film von Kelly Reichardt, erzählt nicht, „wie es einst begann“, aber er ist ehrlicher und authentischer als andere, deren Filme das von sich behaupten. Schüsse fallen kaum, und doch ist das unzweifelhaft ein Western. Cookie und King Lu sind, wie die übrigen Glückssucher, zum Verlieren prädestiniert, und warum das so ist, zeigt Kelly Reichardt in jedem ihrer Filme, die vom Oben und Unten im „Land of the Free“ handeln. Aber zum anderen sind zwei wie der begabte Koch Cookie und der kreative Einwanderer King Lu, die gemeinsam austüfteln, wie man Mächtigeren ein Schnippchen schlägt, zumindest dies, diejenigen, auf die es ankommt, in einer Gesellschaft, die nicht völlig verrohen will, gestern wie heute.

Ein neuer Film von Alexander Kluge: „Orphea“ (Deutschland 2020), gemeinsam mit dem philippinischen Regisseur Khavn entwickelt, widmet sich dem Orpheus-Mythos, den Kluge einer Geschlechtsumkehr unterzieht. Orphea, als Engel der Geschichte, will nicht nur „ihren“ Toten Euridiko zurückholen, sondern dem Tod den Kampf ansagen. Von den Biokosmisten (ein Unsterblichkeitsprojekt der Sowjets) bis zur Afterlife-Forschung im Sillicon Valley, von der Flucht aus dem Totenreich bis zu den Migrationsbewegungen der Gegenwart: der Bogen, auch der musikalische rund um den Orpheus–Mythos ist wie immer bei Kluge weit gespannt, eine Tour d’Horizon, so kenntnis- wie variantenreich.