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Nicht vor und nicht zurück

Kurt Hofmann

Zu „Crossing Europe“ 2015

05.05.2015

Die diesjährige Ausgabe des Festivals des europäischen Films in Linz zeigte sich auf der Höhe der Zeit, viele der  zentralen Filme spiegelten das Europa der Krise wider. Auch heuer sorgte Intendantin Christine Dollhofer dafür, dass keine „Eurofilme“, sondern Beispiele eines engagierten europäischen Kinos zu sehen waren.

Tiflis, Georgien: Die vierzigjährige Nino lebt gemeinsam mit ihrer betagten Mutter in einem Haus, das vom Glanz vergangener Tage kündet. Längst jedoch läuft alles nur auf Pump…  Aber im Salon wird noch empfangen, wenn Mama Geburtstag hat, und so getan, als wäre alles wie früher. Alkohol ist immerhin noch in reichem Maße vorhanden, und so können alle. die gekommen sind, die Jubilarin hoch leben lassen. Nur leider sind  die Verwandten auch pleite, und die wenigen, die man noch fragen könnte, ob sie etwas  locker hätten, bleiben auf Distanz… Aber Nino zapft immer neue Quellen an. Im Pfandhaus ist sie schon eine bekannte Figur, dort liegt auch schon der Ring der Mutter, den sie zum „Richten“ mitgenommen hat... Die ältliche Dame hinter dem Schalter, welche Nino mit dem, was sie für das Eingesetzte gegeben, kaum über den Tag geholfen hat, ruft ihr noch, frei nach dem Motto, guter  Rat sei teuer, als sprachliches Aufgeld also, nach, sie möge mit dem Überreichten etwas sinnvolles anfangen. Erst knausern, dann  moralisieren, Nino hat’s  nicht leicht, andererseits liegt die Schaltermadame in der  Leihstube nicht  völlig daneben, denn als erstes geht  Nino shoppen, schließlich muss der Status zumindest nach außen erhalten bleiben…  Unangenehmer  Besuch kündigt sich an: Eine, die Nino einen erheblichen Betrag geliehen hat, ist mitsamt einem  Bodyguard, der nicht  vertrauenserweckend aussieht, in  der  von Nino und deren jüngerer Schwester gemeinsam betriebenen Konditorei eingetroffen und verlangt nachdrücklich ihr Geld. Nino läßt sich zunächst verleugnen und stattet einer nebenan wohnenden Betschwester einen Besuch ab. Sie appelliert an deren nachbarschaftliche Hilfsbereitschaft  und bietet als spontane „Gegenleistung“ an, dass  der Pope ihr Haus weihen darf.  Die Rückzahlung soll später erfolgen, mit Gottes Hilfe vielleicht… Aber derlei Tricks helfen nur kurzfristig weiter, denn es ist ein Fass ohne Boden, und Nino borgt  von Einem, um einem Anderen das Geliehene zurückzuzahlen, a never  ending story. Von den einstigen Glanzstücken des häuslichen Interieurs ist scheinbar nur das wertvolle Bild im Salon geblieben, doch dummerweise hat Ninos Sohn diese längst schon durch die Kopie eines befreundeten Malers ersetzt und das Geld in einem windigen Projekt versenkt… Bei einem Klassentreffen begegnet Nino einem alten Freund aus Schultagen, der ihr einen „sicheren Deal“ anbietet: eine Hypothek auf das Haus, ergänzt durch einige „kleine Wünsche“ des  Kreditgebers, alles ohne Risiko und in aller Freundschaft, selbstverständlich…

Naturgemäß ist das dicke Ende in „Kreditis Limiti“ (Line of Credit;  Georgien/D/F; Regie: Salomé Alexi; Wb) voraussehbar. Keine/r hat Geld, an  jeder Ecke gibt’s Geld. Aber im postsowjetischen Georgien funktioniert  das wie im Varieté: kaum siehst du es , schon ist es wieder verschwunden – ist ja alles so schön bunt hier… Dass „die Georgier“ gerne trinken und singen: dieses  Klischee bedient Salomé Alexi in ihrem Film als ironische Volte ausgiebig. Für’s Singen müssen sie nicht zahlen und irgendeinen Fusel können sie sich immer noch leisten, auch so vergeht der Tag …  Ninos unaufhaltsamer Abstieg wird in „Kreditis Limiti“  komödiantisch erzählt, wie diese, trotz ihrer hektischen Bemühungen stetig auf der Stelle tritt, weder vor noch zurück kann. Doch es ist ein Lachen, das in der  Kehle stecken bleibt: an die 200000 georgische Familien haben zwischen 2009 und 2013  durch Risikokredite ihre Bleibe verloren…

Nadezhda lehrt Englisch an einer Schule in  Bulgarien. Als ihr ein Schüler  einen Diebstahl meldet, hält sie der Klasse eine Moralpauke. Sie werde den Schuldigen,  der sich an der Gemeinschaft vergangen habe, schon finden und eine Lehre erteilen, die er/sie nicht vergisst. Heimgekehrt, warten vor ihrer Türe Vollstreckungsbeamte auf sie. Ihre  Familie  soll ihr Obdach verlieren, weil Darlehensrückzahlungen ausstehen, das Haus soll demnächst versteigert werden…Nadezhda erfährt, dass ihr Mann hinter ihrem Rücken Geld aufgenommen hat, und  erreicht einen kurzfristigen Aufschub. Nach mehreren gescheiterten Versuchen, die fällige Summe aufzutreiben, wendet sie sich an einen zwielichtigen Kreditverleiher. Dessen Sohn ist einer  ihrer schlechtesten Schüler – seine Note soll nach oben korrigiert werden… Eben noch hat  die Lehrerin ihren SchülerInnen einen Vortrag über Richtig und Falsch gehalten, nun soll sie ihre hehren Prinzipien verletzen… Kristina Grozewa und Petar Valchanov zeigen in „Urok“ (The Lesson; Bulgarien/Griechenland 2014; Wb) den schwierigen Grat zwischen Anspruch und Not-Wendigkeit, einen Balanceakt, den Nadezhda nicht bewältigen kann… Kaum ist die Versteigerung des Hauses  abgewendet, drängt schon der Kredithai, denn dessen Frist ist abgelaufen… Unfähig, der  Forderung nachzukommen, und angewidert über  dessen Ideen, wie der Betrag doch noch gestreckt werden könnte, entschließt sie sich zu einer  radikalen Lösung, für die sie ihre moralischen Leitsätze nun  allerdings vollends vergessen muss…

Nicht  für die Schule,  für  das Leben lernen wir: derartiges wurde SchülerInnen über Jahre hinweg eingetrichtert. Nadezhda lernt in „Urok“ etwas über  das Leben und ist dadurch  nicht mehr  imstande, ihren SchülerInnen eine Lektion zu erteilen, die über  das Erfassen des Lehrstoffs hinausgeht – so ist das mit den hehren Prinzipien in Zeiten wie diesen…

In Iciar Bollains „En Tierra Extrana“ (In a foreign land; Spanien 2014; Arbeitswelten) lernt man ArbeitsemigrantInnen der besonderen Art kennen: alle, die in dieser Doku zu Wort kommen, sind bestens ausgebildet, viele von ihnen haben sogar  einen Abschluss,  doch im Zeichen der  Krise mussten sie Spanien in Richtung Schottland verlassen. In Edinburgh leben mehr als zwanzigtausend spanische Arbeitssuchende. Hier finden sie (zumindest die Auskunftspersonen) Jobs, doch nicht als IngenieurInnen, ChemikerInnen,  SprachwissenschaftlerInnen etc, sondern als KellnerInnen, Putzfrauen, Kindermädchen, LagerarbeiterInnen, oder zumindest als Müll aufsammelnde „StadtgartenverschönerInnen“… Eine erzählt,  sie hätte in ihrem Institut an der Uni in Madrid gerade eben € 500.- im Monat verdient, nun, im fernen Edinburgh, in einer Tätigkeit weitab ihrer Qualifikation, verdiene sie immerhin das Lebensnotwendige… „En Tierra Extrana“ vermittelt einen niederschmetternden Befund über die Möglichkeiten der spanischen Intelligenz im Zeichen der Krise. Aber indem wir deren Lage beklagen, wird zudem die Achtlosigkeit und Ignoranz gegenüber denjenigen sichtbar, die hilfesuchend und häufig hochqualifiziert nach Europa gekommen sind, dem Arzt aus dem Iran, der sich nun als Taxifahrer verdingen muss, der Lehrerin aus Syrien, die nun Toiletten reinigen „darf“… und nicht zuletzt auch gegenüber den vielen hoch- oder auch minderqualifizierten, die auf Grund ihres Status allenfalls als ErntehelferInnen arbeiten dürfen…  Von den einen zu sprechen, heißt, von den anderen nicht zu schweigen.

Vier junge LondonerInnen sind gemeinsam in ein abgelegenes Landhaus gezogen, um ein Leben fernab von Routine und Konventionen “auszuprobieren“… Ein Experiment, in dem sie einander spielerisch „Prüfungen“  unterziehen, in Frage stellen, was war, entdecken, was sein könnte.

„Hide and Seek“ (GB 2014; Regie: Joanna Oates; Wb) zeigt eine sich selbst definierende  Gruppe, die gemeinsam jeden Tag mehr drüber herausfinden möchte, wie es ist, mit den anderen zusammenzuleben, ohne die alten Fehler zu begehen. Einander nicht ernst nehmend, alles in Schwebe haltend, reizen sie ihre Möglichkeiten aus, halten nicht dort an, wo früher eine Grenze gewesen wäre… Plötzlich ein falscher  Ton: Eine von ihnen hat mit ihrem Exfreund korrespondiert, nun taucht er unversehens auf, hat die Verschworenen aufgespürt, will die Idylle sprengen. Besitzansprüche werden angemeldet, das „falsche Leben“ meldet sich lautstark zu Wort, doch dem Eindringling wird eine Lehre erteilt, er  wird gedemütigt und in die Flucht geschlagen…  Die  Frage ist allerdings, ob die Vier das Auftauchen des „Intruders“ danach „wegdenken“ und so weitermachen können wie bisher… Kann die böse Saat des Bürgerlichen aufgehen? Zwei der  vier stellen die beiden anderen auf die Probe…

Das Bemerkenswerte an Joanna Oates  „Hide and Seek“ ist weder  das vorgeführte soziale Experiment  noch der unkonventionelle Umgang mit Sexualität, auch nicht die spielerische Leichtigkeit im Umgang der Vier miteinander. All dies hat man schon anderswo (und radikaler…) gesehen. Wie aber reagieren vier, die eine neue Wirklichkeit behaupten, auf einen Eindringling von „außen“, der  ihre „Sprache“ nicht erlernen will? Zunächst, so Oates, indem sie eine „Pause“ einlegen, sich zurücknehmen gegenüber dem in alten Verhaltensmustern Befangenen, Dann, indem sie Kampfformen wie Ausgrenzung und Demütigung anwenden, die Teil des Alten, überwunden Geglaubten sind. Kann es  das  richtige Leben im  Falschen geben, ist die „Insel“ als Modell tauglich? Ab hier endet das Versteckspiel, das „Hide and Seek“…

Benötigt die Welt den Rat der „Grande Nation“? Alexandre Taillard de Vorms, der französische Außenminister, ist überzeugt davon… Demnächst soll er eine Ansprache vor der Uno-Vollversammlung halten und engagiert deshalb Arthur Vlaminck, der eine Eliteuni absolviert hat, als Redenschreiber. Arthur, der weder die politischen Ansichten des Politikers teilt noch dessen intellektuelles Profil allzu hoch einschätzt, lässt sich  „überzeugen“, weil er das Geld braucht. Doch der Minister, ein flacher Denker mit Hang zur Geschwätzigkeit, hält Arthur mit immer neuen  Wendungen auf  Trab. Was er gestern noch gemeint, verwirft er tags darauf, nur ein Zitat seines Lieblingsphilosophen Heraklit hat er stets zur Hand… Der Stab des  Ministers ist gewohnt, dass dieser politische Seifenblasen produziert, aber alle, insbesondere Arthur, müssen gute Miene zum blöden Spiel machen… Dass eine Krise in Afrika gelöst  werden soll, tangiert den Minister wenig, steht doch ein Treffen mit der französischen Literaturnobelpreisträgerin (Jane Birkin!) an, von deren Büchern er keine Ahnung hat…

Bertrand Taverniers „Quai D’Orsay“ (Frankreich 2013; European Panorama) funktioniert nach dem „Tür auf, Tür zu“ - Prinzip des Schwanks, mit dem entfesselten Thierry Lhermitte als  Minister hat Tavernier auch einen boulevarderfahrenen Hauptdarsteller als Atout. Der Erkenntnisgewinn von „Quai D’Orsay“ hält sich allerdings in Grenzen: Eine oberflächliche PolitikerInnenkaste, die nichts zu  sagen hat,  aber dennoch in ihrem Wortschwall nicht zu bremsen ist, regiert Europa – wer hätte das gedacht? Immerhin hat Tavernier einen bösen Schlussgag parat: Als es endlich zum großen Auftritt des Ministers vor der UNO-Vollversammlung kommt, erntet  dessen – nach unzähligen, immer absurder  anmutenden Korrekturwünschen des außenamtlichen Schwätzers – nun völlig sinnentleerte Rede begeisterten Beifall von den VertreterInnen der internationalen Gemeinschaft…

Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst...