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Berlinale 2010, Teil 2: Der Wettbewerb

Kurt Hofmann

Über Vinterbergs "Submarino", Pitts "Shekarchi“, Roehlers "Jud Süß – Film ohne Gewissen“, Heisenbergs "Der Räuber", Wakamatsus „Caterpillar“...

03.04.2010

Versuchsreihen des Authentischen

Zwei Knaben in einer Wohnung, sich selbst überlassen. Ein verwahrlostes Ambiente. Im Kinderwagen der jüngste Spross der Familie, für den die beiden Halbwüchsigen Sorge tragen sollen. Hoffnungslos überfordert, wissen sich diese nicht zu helfen, als es dem Baby plötzlich schlecht geht. Kurz nachdem das Kleine früh morgens gestorben ist, wird die Tür endlich knarrend aufgesperrt. Eintritt die Mutter. Torkelnd nähert sie sich ihrer Brut...

Eine Ouvertüre wie in der Oper: Naturgemäß wird aus dem einen der beiden Brüder ein Alkoholiker, aus dem anderen ein Junkie, beide mit Gefängnis Erfahrungen. Gewalt liegt in der Luft, inkludierend auch Vergewaltigung und Mord... Der kleine Sohn des Einen der Beiden soll es einmal besser haben, da sind sich die Geschwister einig, es bleibt offen, doch man ahnt, dass, wie in der griechischen Tragödie, auch hier das Schicksal etwas dagegen haben wird... Eine Sozialschmonzette: Der einstige Dogma-Filmer Thomas Vinterberg, dessen viel gelobter Missbrauchs–Film "Das Fest" heute wieder (noch immer) hochaktuell wirkt, hat mit seinem neuen, im Wettbewerb der Berlinale gezeigten Film "Submarino" (Dänemark 2010) die Klaviatur der falschen Gefühle bedient. Leid und Verzweiflung als Endlosschleife. Die Wunden der Gepeinigten, deren tiefer Schmerz: behauptet, herbeizitiert als Spiel mit den Emotionen. Ein Film, in dem kein wahres Wort gesprochen wird. Letztlich doch nicht die große Oper, vielmehr eine Elendsoperette aus dem tiefen Norden: Doch wie's da drinnen aussieht, geht keinen was an...

Ali arbeitet als Nachtwächter in Teheran. Folgerichtig bekommt er Frau und Tochter kaum zu Gesicht, ersucht darum, in die Tagschicht der Fabrik, die er bewacht, versetzt zu werden, wird abgewiesen, weil er, der einstige Häftling, nichts zu bitten, gar zu fordern hat. Als er eines Tages von der Arbeit kommt, findet er die Seinen nicht vor. Auch die Nachbarn wissen nichts von deren Verbleib. Bei der Polizei muss er acht Stunden warten, bis man ihm Auskunft erteilt. Bevor man ihm mitteilt, dass seine Frau von einer "verirrten“ Polizeikugel während eines Schusswechsels zwischen Polizei und DemonstrantInnen tödlich getroffen wurde, wird er noch auf demütigende Weise über die Beziehung zu seiner Frau befragt, ganz so, als stünde er, der eben erst entlassene Delinquent, wieder unter Verdacht… Durch die Kranken- und Leichenhäuser der großen Stadt irrend, wird ihm schließlich auch die vage Hoffnung auf das Überleben der Tochter genommen. Es brodelt in dem Mann. Von einem Hügel aus visiert er mit seinem Gewehr die unten auf dem Highway vorbeifahrenden Autos an, erschießt in der Folge einen Polizisten, ein Leben für zwei Leben. Bald schon wird der Jäger zum Gejagten…

"Shekarchi“ (The Hunter; Iran/Deutschland 2010; Regie: Rafi Pitts), während der Wahlkampagne 2009 gedreht, wirkt wie ein düsterer Vorbote auf das, was im Iran auf die Zeit der Hoffnung folgte: die "Zeit des Zorns“ (so der deutsche Titel des Films) und zugleich innerhalb des Festivals wie ein Gegenentwurf zu Vinterbergs verlogenen "Submarino". Wo bei Vinterberg geschwätzig und lautstark das Leid beschworen wird, das von irgendwo (sozial nicht verortet) über die Menschen gekommen ist wie eine Naturkatastrophe, herrscht in Rafi Pitts Film eine gefährliche Stille, kontrastiert allenfalls vom Lärm der Großstadt, der Urbanität behauptet, wo Angst diese stetig einschränkt... Das ist kein Mann, der rot sieht, vielmehr einer, der implodiert, nicht explodiert, als er sich zu seiner Tat entschließt. Sein Opfer zufällig ausgewählt (so, als hätte er eine Wahl...), seine Kugel ohne Anschrift. Weshalb Ali im Gefängnis war, erfährt man nicht, doch man ahnt, dass es wohl ein politisches "Vergehen" war. Es muss nicht benannt werden, um die Hauptfigur (gespielt vom Regisseur) zu skizzieren, wie auch deren Schmerz keiner Schreie bedarf, Es ist, so zeigt Rafi Pitts am Schicksal eines Intellektuellen, der es im Iran dieser Tage bestenfalls zum Nachtwächter bringen kann, ein Punkt erreicht, an dem Sprache obsolet geworden ist und nur der Tod als gemeinsamer Nenner und verbindliche Währung taugt.

Based on a true story: Das ist meist im Kino eine gefährliche Drohung. So auch bei Oskar Roehlers "Jud Süß – Film ohne Gewissen“ (Österreich/Deutschland 2010; Regie: Oskar Roehler; Produktion: Novotny + Novotny), der sich dem Schicksal des österreichischen Schauspielers Ferdinand Marian nach dessen Entscheidung, die antisemitische Paraderolle des Jud Süß in Veit Harlans gleichnamigen Hetzfilm zu übernehmen, widmet. Da wird Marian eine jüdische Ehefrau angedichtet, er versteckt (ebenfalls erfunden) einen jüdischen Kollegen vor den Nazis in seinem Gartenhaus, ist angeblich (in Wahrheit hatten ein halbes Dutzend prominenterer Kollegen wie Gustav Gründgens und Bernhard Minetti sich mit mehr oder weniger eleganten einfallsreichen Ausflüchten zuvor entschlagen) für Goebbels und Harlan erste Wahl usw., usf. Wenn derlei wenigstens sinnstiftend wäre und nicht bloß "aufpeppend". Vor allem ist dieser Umgang mit historischem Material unredlich, wenn es an Stelle aller vorgeschobenen edlen Motive doch nur um Effekthascherei (mit untauglichen Mitteln) geht. In Istvan Szabos "Mephisto" (Ungarn/BRD 1980/81), einem vergleichbaren Projekt, stand ein Prototyp im Mittelpunkt, der Anpasser aus Karrieregründen. Das war nicht Gustav Gründgens, sondern der Hendrik Höfgen des Romans von Klaus Mann, gebrochen durch Istvan Szabos Blick auf diese Figur, gebrochen durch Szabos Wissen über das Verhältnis zwischen Klaus Mann und Gründgens, gebrochen durch Brandauers (oft unerträgliche) Manierismen, gebrochen durch Ariane Mnouchkines (weit unkonventionellere) theatralische Vision dieses Stoffes. Christopher Roths "Baader" (Deutschland 2002), welcher Fakten und Fiktion in einer gefährlichen Gratwanderung vermischte, hatte immerhin ein originelles Konzept, als er Ennslin und Baader als die politische Variante von Bonnie and Clyde bzw. Andreas Baader als Popstar der Revolte stilisierte. Oskar Roehlers untauglicher Versuch hat nur einen originellen Einfall: Volksbühnen–Star Milan Peschel als Werner Krauss zu besetzen. Auf diese Idee muss man erst einmal kommen – da rotiert der Pathos beladene Antisemit Krauss wohl noch im Grabe (und das ist gut so)…

Österreich in den 80ern: Ein Bankräuber in Ronald–Reagan–Maske überfällt Banken im Rekordtempo und wird in der Bevölkerung bald als "Pumpgun–Ronnie" bekannt und populär.  Benjamin Heisenbergs "Der Räuber" begibt sich auf die Spur dieser Figur und ist doch, trotz genauer Recherche, weit entfernt davon, eine dieser "based on a true story"–Filme zu sein. Johann Kastenberger (der im Film Rettenberger heißt), der „Pumpgun–Ronnie“, war abseits seiner  kriminellen Karriere auch ein begnadeter Marathonläufer. Heisenbergs Rettenberger ist einer, der im Laufen wie beim Banküberfall nur ein Ziel verfolgt: seine persönlichen Grenzen auszutesten und zu überschreiten, süchtig nach Herausforderung. Das erbeutete Geld versteckt er unter dem Bett, rührt es kaum an, er will sich ja nicht zur Ruhe setzen.

Zuerst lernen wir in Heisenbergs Film aber den Haftentlassenen (noch vor seiner Karriere als Pumpgun–Ronnie) kennen, der mit seinem Bewährungshelfer die „Zukunft“ bespricht. Worauf er sich denn in der Freiheit am meisten freue, wird er gefragt. „Nicht mehr im Kreis laufen zu müssen!“ ist die Antwort… Auf dem Arbeitsamt sieht er Erika, die Jugendfreundin, wieder, zieht später bei ihr ein, beginnt so etwas wie eine Beziehung mit ihr. „Du bist mir dazwischengekommen!“ wird er ihr später, wenn sie von seiner Doppelexistenz erfährt, sagen. Die Gefühle: unvorhergesehene „Störfaktoren“, Irritationsmomente für den Planungsfanatiker Rettenberger… Rettenberger ist einer, der im Verlauf seiner legal/illegalen Karriere als Sportler und Gangster den „Kick“, einer Droge gleich, braucht, auch dann, wenn ihn schließlich eine Polizei-Hundertschaft durch den Wald jagt…
Benjamin Heisenbergs „Der Räuber“ ist (historisierend) die Geschichte einer Obsession, ein Typus aus dem Gestern, doch nicht von Gestern in Zeiten des Höher-Schneller-Besser, des No Risk - No Fun (auch wenn dabei das Geld der Anleger verspekuliert wird), und selbstverständlich fällt einem der alte Brecht ein, wenn er gegenüberstellt, was denn das Überfallen einer Bank schon gegen die Gründung einer Bank sei…

Ist das noch ein Mensch? Da kehrt einer aus dem Krieg heim, hat Arme und Beine verloren, kann sich nicht mehr verständigen. Das Torso heißt Leutnant Kurokawa und wird als Kriegsheld, ja „Kriegsgott“ gefeiert, weil er alles für Japan gegeben hat. Von seiner Frau wird erwartet, ihn zu hegen und zu pflegen, auch was seine (noch erfüllbaren) männlichen Bedürfnisse betrifft. War das denn ein Mensch? Diese Frage stellt Koji Wakamatsu in seinem neuen Film „Caterpillar“ und beantwortet sie eindeutig. Leutnant Kurokawa wird in Rückblenden als Vergewaltiger und Mörder gezeigt, einer von vielen „Helden“ der japanischen Aggression gegen China, der die ChinesInnen entsprechnend der offiziellen Propaganda für Untermenschen hält. Das Bild des Torsos als Anklage gegen den unmenschlichen Krieg erinnert zunächst an Dalton Trumbos „Johnny got his gun“ (USA 1971). Doch „Caterpillar“ hat andere Intensionen als der (radikale) Antikriegsfilm des einst von McCarthy verfolgten Dalton Trumbo. Hatte Wakamatsu in „United Red Army“ (über die „japanische RAF“ der sechziger und siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts) die Selbstbezichtigungen der als Abweichler „Entlarvten“ in ihrem rituellen Wahnsinn gezeigt, so führt er nun in „Caterpillar“ selbst nicht weniger als einen filmischen Schauprozess gegen das japanische Selbstbild, noch heute sichtbar in zahlreichen Ehrungen für die in Schreinen „verewigten“ Ikonen des Völkermordes. Zeigend, wie „Kriegsgott“ Kurokawa seine Rolle als Unterdrücker und Vergewaltiger schon vor dem Kriegseintritt bei seiner Frau eingeübt hat und sich der Männlichkeitswahn prächtig für den Wahn des Krieges (vielmehr die imperialistischen Pläne der Kriegshetzer) funktionalisieren lässt, tritt „Caterpillar“ gegen gesellschaftliche Tabus und die unaufgearbeitete Vergangenheit an.
Ein wütender Film, der sich nicht mit humanistischen Appellen begnügt und die Festivalroutine ebenso sprengte wie das edle Klischee des Antikriegsfilms, auf den sich alle einigen können. Unvorstellbar, dass ein österreichischer oder deutscher Regisseur einen Spielfim mit vergleichbarer Verve anläßlich der Debatte um die “Verbrechen der Wehrmacht”-Ausstellung gedreht hätte oder jetzt, in Zeiten, da die Vertriebenenverbändedie Täter-Opfer-Umkehr propagieren. Fraglos jedoch sind Filme wie dieser, die (lustvoll) spalten statt zu einen und sich um den gesellschaftlichen wie ästhetischen Konsens den Teufel scheren, rar geworden, auf Festivals allemal, schon gar im Kino-Alltag.

Einer wie Rafi Pitts, der vom geschundenen Individuum auf das (gesellschaftliche) Ganze schließt. Einer wie Benjamin Heisenberg, dem die Genauigkeit wichtiger ist als der Effekt. Einer wie Koji Wakamatsu, der sich gegen die Weisheit des Alters und für die Unvernunft der Empörung entschieden hat. Drei unterschiedliche Ansätze von Regisseuren unterschiedlicher Generationen, denen gemein ist, dass sie sich – gleich anderen KandidatInnen im diesjährigen Wettbewerb, doch mit größerer Überzeugungskraft – auf die Suche nach dem Authentischen begeben haben. Im ursprünglichen etymologischen Wortsinn meint das Authentische den Urheber /die Urheberin einer Tat. TäterIn sein, ohne nach (ästhetischen) Alibis zu suchen, die Zuordenbarkeit und Berechenbarkeit von FilmemacherInnen erleichtern: ein hehres Ziel.