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"Indien ist politisch nach rechts gerückt"

Gerhard Klas sprach mit Achin Vanaik, Dekan der politischen Fakultät der Universität Delhi – mit 300.000 Studierenden die größte Universität Indiens – über den Terroranschlag in Mumbai, über den wachsenden Einfluss der Hindufundamentalisten, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und die Herausforderungen für die Bildung einer politischen Alternative in Indien.

20.03.2009

Am 26. November 2008 kam es in der indischen Finanzmetropole Mumbai innerhalb kurzer Zeit zu 17 Explosionen, Angriffen mit Schnellfeuerwaffen und zu Geiselnahmen an zehn verschiedenen Stellen der Stadt. Nach Angaben der indischen Behörden gab es dabei 239 Verletzte und 174 Tote. Der Anschlag wird verglichen mit dem 11. September in New York. Von Mitte April bis Mitte Mai wird in Indien ein neues Parlament gewählt.

Frage: Der Terroranschlag vom 26.November 2008 in Mumbai wird in Indien oft in einem Atemzug mit dem 11.September 2001 genannt. Was steckt dahinter?
Achin Vanaik: Die Täter hatten verschiedene Motive: Zum einen den Kaschmirkonflikt, zum anderen die Ausgrenzungspolitik der nationalistischen Hindubewegung. Die gezielten Angriffe auf ein jüdisches Haus und die ausländischen Gäste in den Hotels sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Täter auch auf die internationale Politik abzielten, nämlich auf die strategische Allianz Indiens mit den USA und Israel.
Klar ist heute, dass die Täter auch Verbindungen zu Teilen des pakistanischen Establishments hatten. Auf politischer Ebene war es jedenfalls ein Geschenk an die mächtigen reaktionären Kräfte, so wie der 11. September ein Geschenk der unteren Gefilde der internationalen reaktionären Rechten, Al Qaeda, an die höchste Ebene der Reaktion war: die Regierung der USA.
Auch die Täter von Mumbai haben den reaktionären Kräften in Indien in die Hand gespielt, nämlich denjenigen, die Muslime und den Islam dämonisieren und die strategische Verbindung zu den USA im Namen des "Kampfes gegen den Terror" vertiefen wollen. Sie haben denen einen Dienst erwiesen, die gegen die Entspannung zwischen Indien und Pakistan arbeiten und die Verantwortung der indischen Politik für die Situation in Kaschmir verschleiern wollen. Diese Attacken sind politisch kontraproduktiv und unmoralisch. Unsere Arbeit, die der progressiven Kräfte, wird damit erschwert.

Kommen die Architekten der inneren Sicherheit in Indien nun aus den USA?
FBI-Agenten und die des Mossad, des israelischen Geheimdienstes, kommen jetzt noch öfter nach Indien. Sie wollen die indischen Geheimdienste und die Armee in ihre Strategie einbinden und die Kooperation auch auf der politischen Ebene vertiefen.
Das schlägt sich auch in der Gesetzgebung nieder, denn dieser "Kampf gegen den Terrorismus" bildet die Grundlage für repressive Gesetze. Sie richten sich gegen den nichtstaatlichen Terror und lenken davon ab, dass trotz all der schrecklichen Terroranschläge der schlimmste Terror immer noch vom Staat ausgeht, z.B. in Kaschmir: dort sind 500.000 Soldaten, Paramilitärs und Polizisten stationiert. Auf je zwölf Einwohner kommt ein Soldat, das ist mehr als in Palästina oder in anderen vergleichbaren Regionen.

Warum wurde dem Angriff von Mumbai in Indien mehr Bedeutung beigemessen als den Bombenattentaten der Vergangenheit?
Nach den Anschlägen vom November war das Medienecho viel größer als sonst, weil sog. Eliten unter den Angegriffenen waren. Es gab rund 200 Tote, das hat es auch in der Vergangenheit schon gegeben – im Gegensatz zu jetzt war die Empörung bisher aber nicht so groß gewesen. Bei einem Angriff auf ein Fünf-Sterne-Hotel, der auch noch live im Fernsehen übertragen wird, fühlt sich die Elite bedroht. Das ist etwas anderes als ein Bombenattentat auf einen Basar oder einen Bahnhof, bei dem gewöhnliche Inder ums Leben kommen.
Ein wichtiger Faktor ist die Rolle der Medien bei solchen Ereignissen. Sie richten sich stark an die sogenannte "Mittelklasse", anders als in Deutschland bezeichnet sie aber die Oberen 25% der Gesellschaft. Die große Mehrheit, 75% der Bevölkerung, lebt von weniger als 2 US-Dollar am Tag. Ein US-Dollar pro Tag bedeutet absolute Armut, 2 US-Dollar "normale" Armut.
Wirtschaftspolitisch ist es ziemlich egal, wer bei den kommenden Wahlen gewinnt: eine Koalition unter der Führung der Kongresspartei oder eine unter der Führung der rechtsgerichteten Hindupartei BJP. Natürlich gibt es im Bereich des Kommunalismus – also beim Versuch, über Identitätspolitik einzelne Volksgruppen und gesellschaftliche Gruppen gegeneinander auszuspielen – Unterschiede. Aber in der Wirtschafts- und Außenpolitik sind sich beide Parteien ähnlich, beide sind proamerikanisch und neoliberal.
Auch die derzeitige Wirtschaftskrise wird das nicht grundlegend ändern. Man rechnet immer noch mit einem Wachstum von 6–7%. Indien ist relativ geschützt, da die Rupie, die Landeswährung, noch nicht frei konvertierbar ist. Trotz gegenteiliger Bekundungen war dafür nicht Premierminister Manmohan Singh verantwortlich, sondern die Linke – CPI und CPI(M).
Derzeit besteht die Hauptreaktion auf die Krise in verschiedenen Varianten eines Kryptokeynesianismus. Ansonsten ist man der Ansicht, dass die Richtung – mit geringfügigen Korrekturen – im Wesentlichen stimmt.

Was bedeutet die Unterstützung großer Konzerne für den radikal-hinduistischen Narendra Modi, Ministerpräsident des Bundesstaates Gujarat, der schon 2002 während der Pogrome im Amt war und für den Tod von mehr als tausend grausam ermordeten Muslimen verantwortlich ist?
Die Unterstützung für Modi gab es schon vor der Krise. Die Krise trifft Indien ja weniger als andere Staaten. Seine Kapitalisten sorgen sich viel mehr um den Schutz ihres Profits, als um den Schutz der Muslime. Aber sie wollen auch Stabilität. Wenn es hie und da mal Unruhen gibt, ist das eine Sache, aber niemand will größere Unruhen. Modi verkauft sich als jemand, der diese Stabilität herstellen kann. Ich gebe euch Vergünstigungen, ihr braucht euch um Streiks nicht zu sorgen, hier ist der Ort, wo man investieren soll – das ist seine Botschaft. Die Mittelklasse hat denselben Wunsch, auch sie nimmt es nicht so schwer, wenn es hie und da mal Ausschreitungen gibt, oder Muslime getötet werden, aber sie will nicht, dass die Spannungen explodieren. Immerhin zählt die muslimische Minderheit 140 Millionen Menschen, in Indien lebt also die zweitgrößte muslimische Gemeinschaft der Welt.
Für die BJP erfüllen die Unruhen eine bestimmte Funktion, wenn sie kontrolliert werden, weil sie die Menschen polarisieren.
Die Aggressionen der Hindunationalisten bleiben juristisch fast immer ungesühnt. Narendra Modi wollen die indischen Industriellen sogar zum künftigen Premierminister machen. Es gibt Bilder von Modi, auf denen er von Ratan Tata umarmt und gelobt wird, weil er eine kapitalfreundliche Politik betreibt. Eigentlich gilt Ratan Tata als ein Vertreter der liberalen und säkularen Bourgeoisie. Das wertet Modi, der wegen seiner Verantwortung für die Pogrome in Gujarat nie zur Verantwortung gezogen wurde, politisch ungemein auf. Es würde mich und viele andere nicht überraschen, wenn er demnächst Parteichef der BJP und damit auch Kandidat für das Amt des Premierministers werden würde.
Seit 2001 häufen sich Terroranschläge, deren Täter nicht, wie viele Jahre zuvor, aus dem Ausland kommen – z.B. Pakistan oder Bangladesh – sondern aus Indien selbst. Das polarisiert die indische Gesellschaft. Für die Anschläge in Mumbai sind allerdings Täter von außerhalb verantwortlich.

Die BJP versucht verstärkt auch die Dalit, die Kaste der Unberührbaren, anzusprechen. Kann sie allein mit der Mittelklasse keine Wahlen gewinnen?
Auf Wählerebene scheint die BJP ihr Maximum erreicht zu haben. Bei uns kann man nur noch in Koalitionen regieren. Regionalparteien erlangen dadurch neue Bedeutung. Dennoch sollte man die BJP und die Bewegung der Hindunationalisten nicht unterschätzen: Früher hieß es, die BJP könne, angesichts der großen Vielfalt der indischen Gesellschaft, nie zur Massenpartei werden. Trotzdem schaffte sie es, mit einer perfiden Kampagne das politische Zentrum Indiens nach rechts zu rücken. Die Dalit und die Stammesbevölkerung, die Adivasi, spricht die BJP mit Organisationen an, die mit ihr zusammen im Sangh Parivar organisiert sind, einer Art Dachverband rechter Hinduorganisationen.
Die BJP und die Organisationen des Sangh Parivar weisen zwar faschistische Merkmale auf. Aber bevor nun das Szenario eines faschistischen Indien an die Wand gemalt wird, möchte ich an Ernest Mandel erinnern: Faschismus kann es nur in einem imperialistischen Staat geben, Faschismus ist nicht nur die stärkste Form der nationalen Reaktion, sondern auch die stärkste Ausprägung der internationalen Reaktion.

Welche Kräfte könnten dem Rechtsruck entgegen wirken?
Hier in Indien gibt es rund 450 Millionen Erwerbstätige. 7–8% davon gehören zum formellen Sektor, d.h. sie haben Urlaub und eine geregelte Arbeitswoche, entweder im öffentlichen Dienst oder im Privatsektor. Nur 3% sind gewerkschaftlich organisiert. Und die Bedingungen haben sich verschlechtert: Ein Resultat der Wirtschaftsreformen von 1991 war, dass die Zahl der im öffentlichen Dienst Beschäftigten abgenommen hat.
Das bedeutet, dass der Kampf gegen die Unterdrückung in Indien nicht von den Arbeitern ausgeht, sondern von ganz unterschiedlichen sozialen Bewegungen und Gruppen: Landarbeitern, der Frauenbewegung, die Stammesbevölkerung, die Dalit. Das sind Bewegungen, die je für ihre spezifischen Anliegen kämpfen.
Die große Frage ist nun, wie man all diese bemerkenswerten Bewegungen und Initiativen miteinander verbinden kann. Die indische Bourgeoisie und die regierenden Klassen schafften es bisher in jedem Konflikt, ihre herrschende Rolle aufrecht zu erhalten.
Derzeit befinden sie sich in einer geradezu idealen Situation: Egal ob die BJP oder die Kongresspartei an der Macht ist, es wird dieselbe Politik gemacht. Das ist nicht so anders als in Ländern wie den USA oder Deutschland.
Zwischen Muslimen und Hindus gibt es einen wichtigen Unterschied: Während es die rechten Hindus mehr und mehr schaffen, auf gesamtindischer Ebene durch eine Partei wie die BJP vertreten zu sein, gibt es seit der Teilung Indiens 1947 keine solche indienweite Vertretung für die Muslime. Ein Muslim aus dem Bundesstaat Karnataka hat mehr mit einem Hindu aus Karnataka gemeinsam als mit einem Muslim aus Uttar Pradesh.
Durch die Zunahme gewalttätiger Ausschreitungen, wie die von 2002 im Bundesstaat Gujarat gegen Muslime, könnte es allerdings auch bei ihnen auf gesamtindischer Ebene eine ähnliche Entwicklung geben wie bei den Hindus.

Wie sieht es mit den Beziehungen zwischen Indien und Pakistan aus? Nach den Anschlägen im November wurde ja laut nach Rache gerufen?
Ich würde gerne sagen, dass es zu keinem "heißen" Krieg zwischen den beiden Ländern kommen kann. Leider kann ich das nicht. Nie zuvor hat es ein so lautes Kriegsgeschrei gegeben wie nach den Angriffen auf Mumbai. Viele Inder und ein Großteil der Medien wollen "Pakistan eine Lektion erteilen". Die Tatsache, dass Amerika dagegen ist, erschwert einen solchen Schritt, macht ihn aber nicht unmöglich.
Sollten fundamentalistisch-muslimische Kräfte in Pakistan die Oberhand gewinnen und in Indien eine Hindutva-Regierung an die Macht kommen, könnte es gefährlich werden. Zwar will niemand Nuklearwaffen einsetzen, aber wir sollten die Eigendynamik einer Eskalation nicht unterschätzen. Ein ähnlicher Angriff wie der in Mumbai könnte sogar eine Regierung unter Führung der Kongresspartei unter Zugzwang setzen.

Danke für das Gespräch.

Achin Vanaik ist Autor zahlreicher Bücher und schreibt u.a. für New Left Review und Socialist Register. Er engagiert sich in der indischen Coalition for Nuclear Disarmarment and Peace, ein Dachverband zahlreicher Antikriegsinitiativen in Indien.


Quelle: SOZ