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Charles Darwin: Revolutionär wider Willen

Karl Marx besuchte mehrere Vorträge des Darwin-Mitarbeiters Huxley und empfahl sie auch seinen politischen Freunden. Wilhelm Liebknecht erinnerte sich später: „...als Darwin die Konsequenzen seiner Forschung zog und sie der Öffentlichkeit vorlegte, da war bei uns monatelang von nichts anderem die Rede als von Darwin und der umwälzenden Gewalt seiner wissenschaftlichen Eroberungen” - Darwins Theorie war revolutionär, er selbst war es nicht.

18.03.2009

Im Jahr 1845/46 verfassten Marx und Engels Die deutsche Ideologie, die erste reife Ausformulierung ihrer später als historischer Materialismus bekannten Theorie. Auf einer der ersten Seiten fand sich folgende Passage: „Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig. Die Geschichte der Natur, die sogenannte Naturwissenschaft, geht uns hier nicht an..."
Im letzten Moment strichen sie diesen Abschnitt aus der endgültigen Version. Sie beschlossen, ein Thema nicht zu erwähnen, das zu untersuchen und adäquat zu diskutieren sie nicht die Zeit hatten.
Was die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus nicht wissen konnten: Ein englischer Gentleman, der keinerlei Sympathie für den Sozialismus hegte, hatte bereits eine überzeugende materialistische Erklärung der Naturgeschichte verfasst. Sie konnten diese Darlegung nicht lesen, weil ihr Autor, Charles Darwin, derart geschockt war von den Konsequenzen seiner eigenen Ideen, dass er sie zwanzig Jahre unter Verschluss hielt.
Darwins Auffassungen über die Evolution waren 1838 bereits voll entwickelt, und er schrieb 1844 einen 50.000 Wörter langen Essay. Aber er veröffentlichte sein „epochemachendes Werk” (Marx) erst 1859.

Darwins Erkenntnis


Andere hatten bereits vor Darwin Spekulationen zur Evolution angestellt, aber die in Wissenschaftskreisen und in der Gesellschaft herrschende Auffassung war, dass die verschiedenen Typen der Pflanzen und Tiere von Gott geschaffen und die verschiedenen Arten für immer festgelegt seien. Die wenigen, die glaubten, dass die Arten sich mit der Zeit verändert hatten, konnten diese Veränderungen nicht erklären, ohne Zuflucht zum Übernatürlichen zu nehmen, wonach die Evolution ein langfristiger Plan Gottes war oder irgendeine Kraft (Gott) die Natur veranlasste, der Vollkommenheit zuzustreben.
Was Darwins Werk einzigartig machte war nicht seine Behauptung, dass die Evolution eine Tatsache war, sondern seine ganz und gar materialistische Erklärung dafür, wie all die wunderbaren Variationen und Muster des Lebens entstanden waren. Er zeigte, dass der Hauptfaktor der Evolution die „natürliche Auslese” ist, ein Prozess, der sich einfach zusammenfassen lässt:
1. Alle Organismen produzieren mehr Nachkommen, als möglicherweise überleben können.
2. Es gibt viele Unterschiede unter den Individuen einer Art.
3. Variationen, die die Chancen des Individuums zu überleben, und somit sich fortzupflanzen, erhöhen, werden wahrscheinlich an die nächste Generation weitergegeben.
4. Über lange Zeitspannen werden sich als Resultat solche günstigen Eigenschaften in der gesamten Population verbreiten, während schädliche Eigenschaften zurückgehen werden, sodass die Population insgesamt zunehmend besser an die Umwelt angepasst sein wird.
5. Wenn sich die Umwelt für einen Teil der Population ändert, wird sich diese auf unterschiedliche Weise verändern, und diese in verschiedene Richtungen verlaufenden Änderungen können schließlich zur Entwicklung getrennter Arten führen.
Dieses einfache und elegante Konzept griff das am häufigsten zur Verteidigung des Kreationismus gebrauchte Beweismittel — das anscheinend perfekte Design der Pflanzen und Tiere — auf und erklärte es durch natürliche Prozesse. In den Worten des Evolutionstheoretikers Ernst Mayr (1904—2005): „Darwin ersetzte die theologische oder übernatürliche Wissenschaft durch die weltliche Wissenschaft ... Darwins Erklärung, dass alle Dinge eine natürliche Ursache haben, machte den Glauben an einen höheren Schöpfergeist ganz und gar überflüssig."

Darwins Zögern


Darwins Theorie war völlig materialistisch zu einer Zeit, als der Materialismus in respektablen Kreisen nicht bloß unpopulär war, sondern als subversiv und politisch gefährlich betrachtet wurde. Von 1838 bis 1848 — Darwin arbeitete gerade seine Ideen aus — wurde England von einer beispiellosen Welle von Massenaktionen, politischer Proteste und Streiks erschüttert. Radikale — materialistische, atheistische — Ideen infizierten die Arbeiterklasse, sodass viele einen revolutionäre Veränderung erwarteten (oder fürchteten).
Darwin war niemals politisch aktiv, aber er war ein privilegiertes Mitglied der reichen Mittelklasse, und diese Klasse wurde angegriffen. „Darwin hatte einen starken Glauben an die bürgerliche Ordnung. Seine Wissenschaft war revolutionär, aber Darwin war es nicht” (John Bellamy Foster).
Statt zu riskieren, mit den Radikalen identifiziert zu werden, legte Darwin die Evolution beiseite und widmete sich in den folgenden Jahren einer populären Darstellung seiner Reise um die Welt, zwei wissenschaftlichen Büchern über Korallenriffe und vulkanische Inseln sowie einer umfassenden vierbändigen Studie über Rankenfüßer (Cirripedia). Erst Mitte der 50er Jahre, als sein Ruf als Wissenschaftler gesichert und die sozialen Unruhen der 40er Jahre eindeutig überwunden waren, kehrte er zu dem Thema zurück, das ihn berühmt machen sollte.
Selbst jetzt hätte er noch bis zum folgenden Jahrzehnt mit einer Veröffentlichung gezögert , wenn ihm nicht im Juni 1858 ein junger Naturforscher, Alfred Russell Wallace, einen Essay zugeschickt hätte, der Ideen enthielt, die mit seinen nahezu identisch waren. Von Freunden gedrängt, als erster zu veröffentlichten, schrieb Darwin On the Origin of Species by Means of Natural Selection [Über die Entstehung der Arten durch natürliche Auslese], das im November 1859 erschien.
Brillant argumentierend und auch für Laien verständlich geschrieben, war es sofort ein Bestseller. Der Verlag druckte 1250 Exemplare, aber er erhielt bereits am ersten Tag Bestellungen für 1500 Exemplare. Eine zweite Auflage von 3000 Exemplaren folgte nach wenigen Wochen und in den nächsten zehn Jahren vier weitere Ausgaben: Gegen Ende des Jahrhunderts waren etwa 110000 Exemplare in England verkauft worden.
Während Darwins Ideen von vielen, besonders jüngeren Wissenschaftlern schnell akzeptiert wurden, wurden sie vom wissenschaftlichen Establishment und von religiösen Führern rundheraus verurteilt. Wieder und wieder führten die Kritiker zwei miteinander verbundene Argumente an: Die natürliche Auslese schloss Gott von jeder Rolle aus; und, obwohl Darwin das Thema vorsichtigerweise vermieden hatte, die Menschen müssten dann auch Produkte der natürlichen Auslese sein. Beide Ideen waren blasphemisch; beide untergruben die bestehende soziale Ordnung.
Selbst unter Wissenschaftlern, die eine wörtliche Auslegung der Bibel ablehnten und weitgehend mit Darwins Argument übereinstimmten, gab es viele, die darauf bestanden, dass Gott Teil der Erklärung sein musste, als lenkende Kraft der Evolution oder als die göttliche Quelle der menschlichen Seele und Intelligenz. Manche benutzten diese Auffassung, um ihre eigenen reaktionären und rassistischen Vorurteile zu verteidigen: z.B. dass Gott Schwarze und Weiße als verschiedene Arten geschaffen hätte.

Unterstützung durch die ArbeiterInnenklasse


Die Diskussion von Darwins Buch war nicht auf Wissenschaftler und Geistliche beschränkt. Bei einem Preis von 15 Shilling — dafür musste ein gelernter Arbeiter mehrere Tage arbeiten — war The Origin für die meisten Arbeiterhaushalte zwar zu teuer, aber in manchen Städten führten Gruppen radikaler Arbeiter Sammlungen durch, um ein Exemplar zu kaufen, das dann reihum gelesen wurde.
Darwins enger Mitarbeiter Thomas Huxley organisierte eine gutbesuchte Vortragsreihe für Arbeiter in London. Bei diesen Vorträgen, die später als populäre Broschüre erschienen, zögerte Huxley nicht, einen entscheidenden Punkt zu verteidigen, den Darwin in seinem Buch nur angedeutet hatte — dass auch der Mensch ein Produkt der natürlichen Auslese ist und mit anderen gemeinsame Vorfahren hat: „Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die Menschheit ihren Ursprung von einem einzigen Paar hat; ich muss sagen, dass ich überhaupt keinen guten Grund dafür sehen kann zu glauben, dass es mehr als eine Menschenart gibt."
Karl Marx besuchte mehrere Vorträge Huxleys und empfahl sie auch seinen politischen Freunden. Wilhelm Liebknecht erinnerte sich später: „...als Darwin die Konsequenzen seiner Forschung zog und sie der Öffentlichkeit vorlegte, da war bei uns monatelang von nichts anderem die Rede als von Darwin und der umwälzenden Gewalt seiner wissenschaftlichen Eroberungen” [Karl Marx zum Gedächtnis, 1896].
Friedrich Engels erwarb ein Exemplar der Erstauflage von The Origin und schrieb an Marx, dass es „ganz famos” sei. Marx stimmte zu, aber dies bedeutet nicht, dass sie unkritisch waren. Sie missbilligten Darwins „plumpe englische Methode” und machten sich über seine positiven Bezug auf Malthus lustig. Da sie selbst keine Biologen waren, ergriffen sie nicht Partei in der hitzigen Debatte darüber, ob die natürliche Auslese oder ein anderer natürlicher Prozess die Haupttriebkraft der Evolution sei.
Bei seiner entschiedenen Verteidigung Darwins im Anti-Dühring (1877) schrieb Engels (und Darwin hätte sicher zugestimmt): „Die Entwicklungstheorie selbst ist aber noch sehr jung, und es ist daher unzweifelhaft, dass die weitere Forschung, die heutigen, auch die streng darwinistischen Vorstellungen von dem Hergang der Artenentwicklung sehr bedeutend modifizieren wird."
Was er und Marx am meisten an Darwin bewunderten war, dass er gezeigt hatte, dass die Natur eine Geschichte hat. So schreibt Engels in Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, „dass es in der Natur, in letzter Instanz, dialektisch und nicht metaphysisch hergeht, dass sie sich nicht im ewigen Einerlei eines stets wiederholten Kreises bewegt, sondern eine wirkliche Geschichte durchmacht. Hier ist vor allem Darwin zu nennen, der der metaphysischen Naturauffassung den gewaltigsten Stoß versetzt hat durch seinen Nachweis, dass die ganze heutige organische Natur, Pflanzen und Tiere und damit auch der Mensch, das Produkt eines durch Millionen Jahre festgesetzten Entwicklungsprozesses ist."
Die Erkenntnis, die Marx und Engels 1846 niedergeschrieben und dann durchgestrichen hatten — dass die Geschichte der Natur und die Geschichte des Menschen untrennbar sind und von einander abhängen —, wurde durch The Origin bestätigt. In diesem Werk fanden sie eine materialistische Erklärung der Naturgeschichte, um ihre materialistische Erklärung der menschlichen Geschichte zu ergänzen. Darwins Werk war, wie Marx 1861 schrieb, „die naturhistorische Grundlage unserer Anschauung”

Triumph für die Menschheit


Es zeugt von Darwins Hingabe an die wissenschaftliche Wahrheit, dass er, nachdem er sein Zögern bei der Veröffentlichung seiner Ideen überwunden hatte, den Rest seines Lebens ihrer Verteidigung gegen einige der einflussreichsten Meinungsführer seiner Zeit widmete. Als er 1882 starb, war die Tatsache der Evolution in der Wissenschaftsgemeinde nahezu einhellig akzeptiert.
Weitere Forschungen haben unser Verständnis der Evolution vertieft. Sie haben auch Darwins Überzeugung bestätigt, dass die natürliche Auslese eine Schlüsselrolle spielt. Vor allem hat Darwins Beharren auf eine materialistische Erklärung von Naturphänomenen triumphiert. Kein moderner Wissenschaftler, nicht einmal einer mit tiefen religiösen Überzeugungen, würde vorschlagen, dass „Und dann geschah ein Wunder...” eine akzeptable Erklärung für irgendein Naturphänomen ist, darunter den Ursprung, die gewaltige Vielfalt und die ständig wechselnde Natur des Lebens auf unserem Planeten.
Dieser Sieg des Materialismus in der Wissenschaft ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit. Allein aus diesem Grund verdient Charles Darwin trotz seines Zauderns und seiner bürgerlichen Vorurteile die Anerkennung all jener, die ein Ende von Aberglauben und Unwissenheit in allen Aspekten des Lebens anstreben.
Die Idee, wonach „die Natur ebenfalls ihre Geschichte in der Zeit hat, die Weltkörper wie die Artungen der Organismen ... entstehn und vergehn” (Engels), ist ebenso revolutionär und ebenso wichtig für das sozialistische Denken wie die Idee, dass der Kapitalismus endlich ist, d.h. zu einer bestimmten Zeit entstand und auch wieder verschwinden wird.

Ian Angus

(Quelle: SoZ; der Autor ist Herausgeber von "Climate and Capitalism")