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Das gestrige Morgen rekonstruieren, um das morgige Gestern zu verhindern

Andreas Kranebitter

„Die Re-Konstruktion einer kommunistischen Begierde führt uns in die Geschichte des Kommunismus und bürstet sie gegen den Strich“ – verspricht der Klappentext zu Bini Adamczaks Buch „Gestern Morgen“.

06.07.2008

Dementsprechend auch der dramaturgische Aufbau des Textes: Vom Hitler-Stalin-Pakt 1939 über den Großen Terror und die Schauprozesse bis zu den frühen 20er-Jahren streift Adamczak von hinten nach vorn durch die großen und kleinen Niederlagen und Enttäuschungen der russischen Revolution. Doch lässt dieser Aufbau zunächst noch nicht viel mehr vermuten, als die hunderste Wiederholung und Belehrung über die sowjetische Geschichte, so wird bald klar, dass es der Autorin darum nicht geht: Gestern Morgen ist kein Geschichtsbuch, sondern vielmehr eine Anleitung für ein Geschichtsbuch, kein Buch von einer bestimmten Geschichte, sondern ein Buch über Geschichte.

In einem Zeitalter, in dem nach dem großen Crash von 1989 die Rede vom „Ende der Geschichte“ immer noch hegemoniale Ideologie ist, in dem der Glaube an die Alternativlosigkeit des bestehenden Systems so groß ist wie wahrscheinlich selten zuvor in der Geschichte, in dem soziale Bewegungen, radikal antikapitalistisch und systemtranszendent, erst wieder gehen lernen müssen, spricht Adamczak nicht vom Aufstehen, Abputzen und Weitergehen, sondern von der Suche nach den Stolpersteinen. Ihr Buch ist keine Aufforderung, frohen Mutes und unbeschwert den Blick nach vorne zu richten – eine beliebte Strategie der postmodernen Linken heutzutage. Es ist ein Plädoyer für die Auseinandersetzung mit dem Gestern – mit der Frage, warum zum Teufel am day after tomorrow die Revolution immer ihre Kinder zu fressen scheint (und nicht die Kinder der Revolution ihre Eltern).

Diese Frage bringt Adamczak zu der Suche nach jenen „unter die Räder gekommenen“ Revolutionären, nach den KommunistInnen, die von „KommunistInnen“ ermordet wurden – allerdings nicht, um die Toten in Frieden ruhen zu lassen, auch nicht um „der Wahrheit“ ans Licht zu verhelfen, sondern um im Gegenteil „die einsamen kommunistischen Gespenster“ wieder zum Leben zu erwecken, ihre Zukunftsvisionen, Wünsche und Begierden aufzuspüren, bevor die reale Zukunft ihre imaginäre Zukunft letztlich eingeholt hat. Den Glauben, die Hoffnungen, Enttäuschungen, Wünsche und Träume – den Zeitgeist – einer Generation ermordeter KommunistInnen macht Adamczak (aus dem Stoff autobiografischer Romane und Erzählungen) in brillanter Weise lebendig.

Das „Zum-Leben-Erwecken“ der toten KommunistInnen ist dabei kein Selbtszweck, sondern Zweck im Kampf um eine neue Welt – das Aufwirbeln des verhunzten Gesterns macht das Morgen überhaupt erst thematisierbar und denkbar. Und genau dieser durch den Text leuchtende Grundsatz des Buches ist seine absolute Stärke: Es geht nicht um die Geschichte, es geht um die Zukunft; um die Vergangenheit geht es nur, soweit es um die Gegenwart und Zukunft geht. Ohne diese Geschichtsaufarbeitung keine Zukunft, so könnte man Gestern Morgen resümieren. Oder Adamczak im stilistisch so schönen O-Ton: „In ihrer Rhetorik des Bruchs mit einer Vergangenheit, mit der sie nicht brechen können, weil sie sie beschweigen, sie nicht einmal kennen, bestätigen diese Kommunistinnen der Gegenwart die Behauptung ihrer Gegner, das Ende der Geschichte sei bereits erreicht, weil für sie diese Geschichte beendet ist (…). Aber die vergangenen Kämpfe um die Zukunft zu begraben bedeutet unter den fortwährenden Bedingungen der Niederlage nichts anderes als die Zukunft selbst, eine andere Zukunft zu begraben“ (S.25).

Soweit das Programm, die Maxime, der Auftrag ans Publikum, die zu Recht den absoluten Großteils des Raumes einnehmen. Schade, dass sich Adamczak letztlich dennoch verpflichtet fühlt, ihrer eigenen Anleitung für ein Geschichtsbuch auf engstem Raume noch eine vermeintliche „Anwendung“ folgen zu lassen. Die sowjetische Geschichte (und auch diese wie immer nur bis zum Zweiten Weltkrieg) wird in relativ klassischer Manier referiert, auf vager Quellenbasis und im Rahmen des Kanons historiografischer Standardthesen. Und so lesen wir – entgegen den vorher gegangenen Beteuerungen, dass vor dem Hintergrund der Verkehrung des revolutionären Prozesses, die außer Zweifel stehe, die Bestimmung des Zeitpunkts der Verkehrung selbst nebensächlich sei – letztlich doch wieder, dass es die Niederschlagung der Rebellion von Kronstadt war, mit der alles begann. Hinter den vielen Brüchen dann doch wieder die lineare Entwicklung von Kronstadt zum Hitler-Stalin-Pakt? – eine ebenso wenig innovative wie brauchbare These. Das Buch reißt hier an, kündigt an, verspricht – eine historische Analyse, die es nicht bringt, nicht bringen kann, und auf die Adamczak angesichts der Stärke des ersten Parts eigentlich auch getrost verzichten hätte können. Für eine Einleitung zu lang, für ein Buch zu kurz, erliegt die Autorin dem in der Linken so weit verbreiteten seltsamen Drang, die „Lösung“ des zuvor gestellten Problems am Silbertablett des letzten Kapitels zu präsentieren: Beim nächsten Revolutionsversuch möge man doch auf das Allheilmittel der „moralischen Kraft der Revolution“ vertrauen, und vor der gewaltsamen Konterrevolution (so sie die moralische Überlegenheit unserer Revolution dann doch nicht ganz akzeptieren mag) wie einst Allende die Waffen strecken. … Wirklich die „Lösung“?

Doch vermutlich niemand liest Gestern Morgen als „kleine Geschichte der Sowjetunion“. Doch hoffentlich viele lesen den Essay, das Plädoyer, den Text an der Schnittstelle zweier Epochen, nicht nur als Leseanleitung für die Vergangenheit, sonder auch als Versuch, aus der Thematisierung der Vergangenheit sich zu trauen, das Trauma dem Traum weichen zu lassen, und aus der alten Sprache heraus eine neue Sprache zu entwickeln. Die Sprache ist das Thema des Buches: die Sprache der Vergangenheit nachzuahmen macht heute keinen Sinn; gar nicht zu sprechen, wohl noch weniger. So zu sprechen, als hätte vor uns noch niemand über jene neue Welt gesprochen, über die wir sprechen, verpufft ungehört im luftleeren Raum. Nein - eine machtvolle neue Bewegung braucht eine machtvolle neue Sprache. Und Adamczaks Buch ist einer der wertvollsten und inspirierendsten Beiträge in dieser Hinsicht.

Bini Adamczak: Gestern Morgen. über die einsamkeit kommunistischer gespenster und die rekonstruktion der zukunft (Unrast, Münster 2007), 159 Seiten, 12 Euro